Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_408.001
Lessing, Jmmermann und Laube, als durch diesen Zauber einer latenten pgo_408.002
Lyrik, durch den geheimnißvollen Reiz der echt dichterischen Beseelung? pgo_408.003
Doch latent muß die Lyrik im Drama sein, nicht vorlaut, von innen pgo_408.004
heraus wirkend, nicht von außen aufgetragen, dem Dramatischen gehorchend, pgo_408.005
nicht es beherrschend, intensiv, nicht zerflossen! Die lyrischen Formen pgo_408.006
des spanischen Drama, die Sonette und Stanzen sprengen den pgo_408.007
Rahmen der bestimmten Kunstgattung. Wie anders ist die Lyrik in pgo_408.008
Shakespeare's "Romeo und Julie," die Trägerin einer sich rastlos fortentwickelnden pgo_408.009
Leidenschaft! Hieraus ergiebt sich die Berechtigung der pgo_408.010
Lyrik und ihre Schranke! Die Lyrik im Drama ist nur ein aromatischer pgo_408.011
Hauch, der über den Situationen und Charakteren schwebt! Die Lyrik ist pgo_408.012
ausgesprochene Stimmung -- jeder Charakter des Dramas macht in pgo_408.013
seinem Fortgang eine Reihe von Stimmungen durch, die ausgedrückt pgo_408.014
werden müssen! Doch zunächst dürfen diese Stimmungen nur dann einen pgo_408.015
prägnanten lyrischen Ausdruck finden, wenn sie Ursache und Wirkung der pgo_408.016
dramatischen Handlung, und nicht müßige Zwischenstationen sind; dann pgo_408.017
aber darf diese Lyrik nicht eine bestimmte lyrische Form annehmen, sondern pgo_408.018
sie muß sich der dramatischen Rhythmik unterordnen. Die Schillerschen pgo_408.019
Monologe, in denen häufig Stanzen, anapästische, gereimte Verse pgo_408.020
den reimlosen, fünffüßigen blanc-vers unterbrechen, sind nicht von lyrischer pgo_408.021
Zerflossenheit freizusprechen.

pgo_408.022
Die dramatische Handlung selbst liegt nun, wie alles menschliche pgo_408.023
Handeln, zwischen den beiden Polen der freien Selbstbestimmung und pgo_408.024
der verhüllten Nothwendigkeit! Aber während das Epos sich mehr nach pgo_408.025
dem zweiten hinneigt, mehr das menschliche Handeln unter das allgemeine pgo_408.026
Weltgesetz stellt, sein Pathos unter die Naturgewalt beugt: stellt pgo_408.027
das Drama die That des Menschen auf die Spitze seiner freien Entscheidung pgo_408.028
und läßt die Handlung ohne jeden Eingriff der Natur aus pgo_408.029
Wirkung und Gegenwirkung der handelnden Charaktere hervorgehn. Die pgo_408.030
Welt des Dramas ist das Reich des freien Willens und der sittlichen pgo_408.031
Zurechnung. Damit ist die Darstellung des Charakters in seiner Naturbestimmtheit pgo_408.032
nicht ausgeschlossen! Gerade der Dramatiker stellt den Helden pgo_408.033
in jener originalen Urbildlichkeit dar, wie sein Charakter "von Haus pgo_408.034
aus" erscheint, wie er unter den Einwirkungen der Verhältnisse geworden pgo_408.035
ist. Der dramatische Charakter ist ganz; seine Entwickelung zieht nur

pgo_408.001
Lessing, Jmmermann und Laube, als durch diesen Zauber einer latenten pgo_408.002
Lyrik, durch den geheimnißvollen Reiz der echt dichterischen Beseelung? pgo_408.003
Doch latent muß die Lyrik im Drama sein, nicht vorlaut, von innen pgo_408.004
heraus wirkend, nicht von außen aufgetragen, dem Dramatischen gehorchend, pgo_408.005
nicht es beherrschend, intensiv, nicht zerflossen! Die lyrischen Formen pgo_408.006
des spanischen Drama, die Sonette und Stanzen sprengen den pgo_408.007
Rahmen der bestimmten Kunstgattung. Wie anders ist die Lyrik in pgo_408.008
Shakespeare's „Romeo und Julie,“ die Trägerin einer sich rastlos fortentwickelnden pgo_408.009
Leidenschaft! Hieraus ergiebt sich die Berechtigung der pgo_408.010
Lyrik und ihre Schranke! Die Lyrik im Drama ist nur ein aromatischer pgo_408.011
Hauch, der über den Situationen und Charakteren schwebt! Die Lyrik ist pgo_408.012
ausgesprochene Stimmung — jeder Charakter des Dramas macht in pgo_408.013
seinem Fortgang eine Reihe von Stimmungen durch, die ausgedrückt pgo_408.014
werden müssen! Doch zunächst dürfen diese Stimmungen nur dann einen pgo_408.015
prägnanten lyrischen Ausdruck finden, wenn sie Ursache und Wirkung der pgo_408.016
dramatischen Handlung, und nicht müßige Zwischenstationen sind; dann pgo_408.017
aber darf diese Lyrik nicht eine bestimmte lyrische Form annehmen, sondern pgo_408.018
sie muß sich der dramatischen Rhythmik unterordnen. Die Schillerschen pgo_408.019
Monologe, in denen häufig Stanzen, anapästische, gereimte Verse pgo_408.020
den reimlosen, fünffüßigen blanc-vers unterbrechen, sind nicht von lyrischer pgo_408.021
Zerflossenheit freizusprechen.

pgo_408.022
Die dramatische Handlung selbst liegt nun, wie alles menschliche pgo_408.023
Handeln, zwischen den beiden Polen der freien Selbstbestimmung und pgo_408.024
der verhüllten Nothwendigkeit! Aber während das Epos sich mehr nach pgo_408.025
dem zweiten hinneigt, mehr das menschliche Handeln unter das allgemeine pgo_408.026
Weltgesetz stellt, sein Pathos unter die Naturgewalt beugt: stellt pgo_408.027
das Drama die That des Menschen auf die Spitze seiner freien Entscheidung pgo_408.028
und läßt die Handlung ohne jeden Eingriff der Natur aus pgo_408.029
Wirkung und Gegenwirkung der handelnden Charaktere hervorgehn. Die pgo_408.030
Welt des Dramas ist das Reich des freien Willens und der sittlichen pgo_408.031
Zurechnung. Damit ist die Darstellung des Charakters in seiner Naturbestimmtheit pgo_408.032
nicht ausgeschlossen! Gerade der Dramatiker stellt den Helden pgo_408.033
in jener originalen Urbildlichkeit dar, wie sein Charakter „von Haus pgo_408.034
aus“ erscheint, wie er unter den Einwirkungen der Verhältnisse geworden pgo_408.035
ist. Der dramatische Charakter ist ganz; seine Entwickelung zieht nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0430" n="408"/><lb n="pgo_408.001"/>
Lessing, Jmmermann und Laube, als durch diesen Zauber einer <hi rendition="#g">latenten</hi> <lb n="pgo_408.002"/>
Lyrik, durch den geheimnißvollen Reiz der echt dichterischen Beseelung? <lb n="pgo_408.003"/>
Doch <hi rendition="#g">latent</hi> muß die Lyrik im Drama sein, nicht vorlaut, von innen <lb n="pgo_408.004"/>
heraus wirkend, nicht von außen aufgetragen, dem Dramatischen gehorchend, <lb n="pgo_408.005"/>
nicht es beherrschend, intensiv, nicht zerflossen! Die lyrischen Formen <lb n="pgo_408.006"/>
des spanischen Drama, die Sonette und Stanzen sprengen den <lb n="pgo_408.007"/>
Rahmen der bestimmten Kunstgattung. Wie anders ist die Lyrik in <lb n="pgo_408.008"/>
Shakespeare's &#x201E;Romeo und Julie,&#x201C; die Trägerin einer sich rastlos fortentwickelnden <lb n="pgo_408.009"/>
Leidenschaft! Hieraus ergiebt sich die Berechtigung der <lb n="pgo_408.010"/>
Lyrik und ihre Schranke! Die Lyrik im Drama ist nur ein aromatischer <lb n="pgo_408.011"/>
Hauch, der über den Situationen und Charakteren schwebt! Die Lyrik ist <lb n="pgo_408.012"/>
ausgesprochene Stimmung &#x2014; jeder Charakter des Dramas macht in <lb n="pgo_408.013"/>
seinem Fortgang eine Reihe von Stimmungen durch, die ausgedrückt <lb n="pgo_408.014"/>
werden müssen! Doch zunächst dürfen diese Stimmungen nur dann einen <lb n="pgo_408.015"/>
prägnanten lyrischen Ausdruck finden, wenn sie Ursache und Wirkung der <lb n="pgo_408.016"/>
dramatischen Handlung, und nicht müßige Zwischenstationen sind; dann <lb n="pgo_408.017"/>
aber darf diese Lyrik nicht eine bestimmte lyrische Form annehmen, sondern <lb n="pgo_408.018"/>
sie muß sich der dramatischen Rhythmik unterordnen. Die Schillerschen <lb n="pgo_408.019"/>
Monologe, in denen häufig Stanzen, anapästische, gereimte Verse <lb n="pgo_408.020"/>
den reimlosen, fünffüßigen <foreign xml:lang="fra">blanc-vers</foreign> unterbrechen, sind nicht von lyrischer <lb n="pgo_408.021"/>
Zerflossenheit freizusprechen.</p>
              <p><lb n="pgo_408.022"/>
Die dramatische Handlung selbst liegt nun, wie alles menschliche <lb n="pgo_408.023"/>
Handeln, zwischen den beiden Polen der freien Selbstbestimmung und <lb n="pgo_408.024"/>
der verhüllten Nothwendigkeit! Aber während das Epos sich mehr nach <lb n="pgo_408.025"/>
dem zweiten hinneigt, mehr das menschliche Handeln unter das allgemeine <lb n="pgo_408.026"/>
Weltgesetz stellt, sein Pathos unter die Naturgewalt beugt: stellt <lb n="pgo_408.027"/>
das Drama die <hi rendition="#g">That</hi> des <hi rendition="#g">Menschen</hi> auf die Spitze seiner freien Entscheidung <lb n="pgo_408.028"/>
und läßt die Handlung ohne jeden Eingriff der Natur aus <lb n="pgo_408.029"/>
Wirkung und Gegenwirkung der handelnden Charaktere hervorgehn. Die <lb n="pgo_408.030"/>
Welt des Dramas ist das Reich des freien Willens und der sittlichen <lb n="pgo_408.031"/>
Zurechnung. Damit ist die Darstellung des Charakters in seiner Naturbestimmtheit <lb n="pgo_408.032"/>
nicht ausgeschlossen! Gerade der Dramatiker stellt den Helden <lb n="pgo_408.033"/>
in jener originalen Urbildlichkeit dar, wie sein Charakter &#x201E;von Haus <lb n="pgo_408.034"/>
aus&#x201C; erscheint, wie er unter den Einwirkungen der Verhältnisse geworden <lb n="pgo_408.035"/>
ist. Der dramatische Charakter ist <hi rendition="#g">ganz;</hi> seine Entwickelung zieht nur
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[408/0430] pgo_408.001 Lessing, Jmmermann und Laube, als durch diesen Zauber einer latenten pgo_408.002 Lyrik, durch den geheimnißvollen Reiz der echt dichterischen Beseelung? pgo_408.003 Doch latent muß die Lyrik im Drama sein, nicht vorlaut, von innen pgo_408.004 heraus wirkend, nicht von außen aufgetragen, dem Dramatischen gehorchend, pgo_408.005 nicht es beherrschend, intensiv, nicht zerflossen! Die lyrischen Formen pgo_408.006 des spanischen Drama, die Sonette und Stanzen sprengen den pgo_408.007 Rahmen der bestimmten Kunstgattung. Wie anders ist die Lyrik in pgo_408.008 Shakespeare's „Romeo und Julie,“ die Trägerin einer sich rastlos fortentwickelnden pgo_408.009 Leidenschaft! Hieraus ergiebt sich die Berechtigung der pgo_408.010 Lyrik und ihre Schranke! Die Lyrik im Drama ist nur ein aromatischer pgo_408.011 Hauch, der über den Situationen und Charakteren schwebt! Die Lyrik ist pgo_408.012 ausgesprochene Stimmung — jeder Charakter des Dramas macht in pgo_408.013 seinem Fortgang eine Reihe von Stimmungen durch, die ausgedrückt pgo_408.014 werden müssen! Doch zunächst dürfen diese Stimmungen nur dann einen pgo_408.015 prägnanten lyrischen Ausdruck finden, wenn sie Ursache und Wirkung der pgo_408.016 dramatischen Handlung, und nicht müßige Zwischenstationen sind; dann pgo_408.017 aber darf diese Lyrik nicht eine bestimmte lyrische Form annehmen, sondern pgo_408.018 sie muß sich der dramatischen Rhythmik unterordnen. Die Schillerschen pgo_408.019 Monologe, in denen häufig Stanzen, anapästische, gereimte Verse pgo_408.020 den reimlosen, fünffüßigen blanc-vers unterbrechen, sind nicht von lyrischer pgo_408.021 Zerflossenheit freizusprechen. pgo_408.022 Die dramatische Handlung selbst liegt nun, wie alles menschliche pgo_408.023 Handeln, zwischen den beiden Polen der freien Selbstbestimmung und pgo_408.024 der verhüllten Nothwendigkeit! Aber während das Epos sich mehr nach pgo_408.025 dem zweiten hinneigt, mehr das menschliche Handeln unter das allgemeine pgo_408.026 Weltgesetz stellt, sein Pathos unter die Naturgewalt beugt: stellt pgo_408.027 das Drama die That des Menschen auf die Spitze seiner freien Entscheidung pgo_408.028 und läßt die Handlung ohne jeden Eingriff der Natur aus pgo_408.029 Wirkung und Gegenwirkung der handelnden Charaktere hervorgehn. Die pgo_408.030 Welt des Dramas ist das Reich des freien Willens und der sittlichen pgo_408.031 Zurechnung. Damit ist die Darstellung des Charakters in seiner Naturbestimmtheit pgo_408.032 nicht ausgeschlossen! Gerade der Dramatiker stellt den Helden pgo_408.033 in jener originalen Urbildlichkeit dar, wie sein Charakter „von Haus pgo_408.034 aus“ erscheint, wie er unter den Einwirkungen der Verhältnisse geworden pgo_408.035 ist. Der dramatische Charakter ist ganz; seine Entwickelung zieht nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/430
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/430>, abgerufen am 19.05.2024.