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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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der Technik ist für den Romandichter wesentlich. Er wandert von einer pgo_384.002
der verschiedenen Gruppen seines Romans zu andern und wählt gerade pgo_384.003
den Moment, in welchem die eine in eine spannende, noch ungelöste pgo_384.004
Situation versetzt ist, um sie zu verlassen und zur anderen fortzuschreiten. pgo_384.005
Die gleichsam verzauberte Gruppe steht noch lebendig vor unserer Phantasie, pgo_384.006
während wir weiter eilen -- sie gemahnt uns wie eine alte Schuld pgo_384.007
des Dichters, auf deren Abzahlung wir gespannt sind. Je größer der pgo_384.008
Kredit ist, den der Romandichter für seine poetischen Schulden in pgo_384.009
Anspruch nehmen darf, desto größer ist seine Kunst. Jede Erfindung des pgo_384.010
Romans ist ein Wechsel, der erst am Schluß fällig ist.

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Der Schluß des Romans selbst hat nun nicht jene logische Nothwendigkeit pgo_384.012
und Bestimmtheit, wie der Schluß des Drama's. Jm Allgemeinen pgo_384.013
nimmt man an, daß der Schluß des Romans, wie der des Epos pgo_384.014
überhaupt, ein glücklicher sei, daß das bestimmte Ziel, das dem Helden pgo_384.015
oder dem Dichter vorschwebe, nach mancherlei Verwickelungen und pgo_384.016
Jrrungen erreicht werde, daß der Schluß nach vielen Dissonanzen eine pgo_384.017
versöhnende Harmonie bringe. Doch ist das Gegentheil, ein tragischer pgo_384.018
Abschluß, keineswegs ausgeschlossen. Jm breiten Verlaufe des Romans pgo_384.019
werden eine Menge von Fäden angeknüpft, treten eine große Zahl Personen pgo_384.020
auf, über deren Schicksal uns der Abschluß des Romans nicht im pgo_384.021
Dunkeln lassen darf. Hier ist besonders eine übereilte Abfertigung zu pgo_384.022
vermeiden. Der Roman ist voll eingeläutet und muß auch voll austönen pgo_384.023
-- dem Geschick jeder Persönlichkeit, die unser Jnteresse wachgerufen, pgo_384.024
muß ein unverkümmertes Recht zu Theil werden. Für jene modernen pgo_384.025
Romane, deren Jnhalt die innere, den Kreis der verschiedensten pgo_384.026
Verhältnisse durchlaufende Bildung des Einzelnen ist, wie Goethe's pgo_384.027
"Wilhelm Meister," Jean Paul's "Titan," Jmmermann's "Epigonen," pgo_384.028
Laube's "junges Europa," die "Wandelungen" der Fanny Lewald u. a., pgo_384.029
ist ein Abschluß nicht leicht zu finden, da der Prozeß der Bildung ein bis pgo_384.030
zum Tode fortdauernder ist und nur willkürlich an dieser oder jener pgo_384.031
Stelle unterbrochen werden kann. Der Roman schließt daher in der pgo_384.032
Regel, wo die Romantik der Existenz aufhört und ihre Prosa anfängt; pgo_384.033
er läßt eine Beruhigung des hin und hergehenden Strebens durch eine pgo_384.034
harmonische Ehe, die Wahl eines bestimmten Berufes u. dergl. eintreten. pgo_384.035
Dieser Schluß ist ohne schärfere dramatische Konsequenz; aber er genügt

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der Technik ist für den Romandichter wesentlich. Er wandert von einer pgo_384.002
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Die gleichsam verzauberte Gruppe steht noch lebendig vor unserer Phantasie, pgo_384.006
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des Dichters, auf deren Abzahlung wir gespannt sind. Je größer der pgo_384.008
Kredit ist, den der Romandichter für seine poetischen Schulden in pgo_384.009
Anspruch nehmen darf, desto größer ist seine Kunst. Jede Erfindung des pgo_384.010
Romans ist ein Wechsel, der erst am Schluß fällig ist.

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Der Schluß des Romans selbst hat nun nicht jene logische Nothwendigkeit pgo_384.012
und Bestimmtheit, wie der Schluß des Drama's. Jm Allgemeinen pgo_384.013
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/406>, abgerufen am 19.05.2024.