Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_382.001
eine Menge von Personen nebeneinander, bringt sie in die verschiedenartigsten pgo_382.002
Beziehungen, und erst später ergiebt sich ein tieferes Jnteresse, pgo_382.003
ein ethisches Band, das sie schon früher und vielleicht in entgegengesetzter pgo_382.004
Weise verknüpft, als ihre jetzige Gemeinsamkeit. Oder dieselbe Person pgo_382.005
tritt in doppelter Verkleidung auf, führt zwei kontrastirende Rollen durch pgo_382.006
und überrascht, wenn sie die Maske abnimmt, wie z. B. in Balzac's pgo_382.007
"Clotilde von Lusignan." Das Jnkognito ist für die Romanhelden pgo_382.008
wesentlich; erst später knöpfen sie ihren Rock auf und zeigen uns ihren pgo_382.009
Stern. Diese Romantik gehört einmal zum modernen Roman, und pgo_382.010
wenn man sie tadeln wollte, so verkennt man das Wesen einer Dichtform, pgo_382.011
die überhaupt einen vorwiegend stoffartigen Charakter hat und an pgo_382.012
der Grenze der Prosa steht. Sie bildet das Gegengewicht gegen die pgo_382.013
breite geordnete Prosa unserer Verhältnisse, welche dem Menschen von pgo_382.014
Hause aus das polizeiliche und staatsbürgerliche Etikette anhängt und pgo_382.015
ihn in den bestimmten Rubriken irgend eines Registers von der Wiege pgo_382.016
bis zum Grabe unterbringt. Es kommt nur darauf an, daß die romantischen pgo_382.017
Grenzen in den aufgeschwemmten Schichten unserer Kultur mit pgo_382.018
richtigem Jnstinkt aufgespürt werden. Da sind zunächst die großen pgo_382.019
Centralpunkte der Weltstädte, wo die Häufung aller Jnteressen die wunderbarsten pgo_382.020
Kollisionen erzeugen kann! Das fahrende Vagabondenthum pgo_382.021
in seiner Ungebundenheit emancipirt sich von der Strenge der bürgerlichen pgo_382.022
Sitte. Jhm gehört die schönste Zauberblüthe der geheimnißvollen pgo_382.023
Romantik an, Goethe's Mignon. Neuerdings hat Holtei dies Vagabondenleben pgo_382.024
mit erschöpfender Gründlichkeit in seinem bekannten Roman pgo_382.025
behandelt. Jhm am nächsten steht das Leben der Künstler und Literaten, pgo_382.026
dessen Romantik aus dem fast durchgängigen Mißverhältniß einer schöpferischen, pgo_382.027
auf das Jahrhundert wirkenden Geisteskraft und der socialen pgo_382.028
Lebensstellung hervorgeht! Diese Romane sind nach dem Vorgang unserer pgo_382.029
romantischen Schule sehr beliebt. Kampf des exklusiven Genius, pgo_382.030
dem Alles erlaubt ist, mit den Schranken der Gesellschaft ist ihr Grundthema! pgo_382.031
Dennoch ist diese Romantik dem Roman nicht günstig -- die pgo_382.032
Literatur in der Literatur, die Kunst in der Kunst, das ist ein ästhetischer pgo_382.033
Cirkel, der zu sehr in sich selbst verläuft. Die Räuber, Piraten, Ritter pgo_382.034
und Geister, die noch in den Leihbibliotheken spuken, sind ebenfalls solche pgo_382.035
kräftig exceptionelle Gestalten, an deren Stelle der höhere Roman das

pgo_382.001
eine Menge von Personen nebeneinander, bringt sie in die verschiedenartigsten pgo_382.002
Beziehungen, und erst später ergiebt sich ein tieferes Jnteresse, pgo_382.003
ein ethisches Band, das sie schon früher und vielleicht in entgegengesetzter pgo_382.004
Weise verknüpft, als ihre jetzige Gemeinsamkeit. Oder dieselbe Person pgo_382.005
tritt in doppelter Verkleidung auf, führt zwei kontrastirende Rollen durch pgo_382.006
und überrascht, wenn sie die Maske abnimmt, wie z. B. in Balzac's pgo_382.007
„Clotilde von Lusignan.“ Das Jnkognito ist für die Romanhelden pgo_382.008
wesentlich; erst später knöpfen sie ihren Rock auf und zeigen uns ihren pgo_382.009
Stern. Diese Romantik gehört einmal zum modernen Roman, und pgo_382.010
wenn man sie tadeln wollte, so verkennt man das Wesen einer Dichtform, pgo_382.011
die überhaupt einen vorwiegend stoffartigen Charakter hat und an pgo_382.012
der Grenze der Prosa steht. Sie bildet das Gegengewicht gegen die pgo_382.013
breite geordnete Prosa unserer Verhältnisse, welche dem Menschen von pgo_382.014
Hause aus das polizeiliche und staatsbürgerliche Etikette anhängt und pgo_382.015
ihn in den bestimmten Rubriken irgend eines Registers von der Wiege pgo_382.016
bis zum Grabe unterbringt. Es kommt nur darauf an, daß die romantischen pgo_382.017
Grenzen in den aufgeschwemmten Schichten unserer Kultur mit pgo_382.018
richtigem Jnstinkt aufgespürt werden. Da sind zunächst die großen pgo_382.019
Centralpunkte der Weltstädte, wo die Häufung aller Jnteressen die wunderbarsten pgo_382.020
Kollisionen erzeugen kann! Das fahrende Vagabondenthum pgo_382.021
in seiner Ungebundenheit emancipirt sich von der Strenge der bürgerlichen pgo_382.022
Sitte. Jhm gehört die schönste Zauberblüthe der geheimnißvollen pgo_382.023
Romantik an, Goethe's Mignon. Neuerdings hat Holtei dies Vagabondenleben pgo_382.024
mit erschöpfender Gründlichkeit in seinem bekannten Roman pgo_382.025
behandelt. Jhm am nächsten steht das Leben der Künstler und Literaten, pgo_382.026
dessen Romantik aus dem fast durchgängigen Mißverhältniß einer schöpferischen, pgo_382.027
auf das Jahrhundert wirkenden Geisteskraft und der socialen pgo_382.028
Lebensstellung hervorgeht! Diese Romane sind nach dem Vorgang unserer pgo_382.029
romantischen Schule sehr beliebt. Kampf des exklusiven Genius, pgo_382.030
dem Alles erlaubt ist, mit den Schranken der Gesellschaft ist ihr Grundthema! pgo_382.031
Dennoch ist diese Romantik dem Roman nicht günstig — die pgo_382.032
Literatur in der Literatur, die Kunst in der Kunst, das ist ein ästhetischer pgo_382.033
Cirkel, der zu sehr in sich selbst verläuft. Die Räuber, Piraten, Ritter pgo_382.034
und Geister, die noch in den Leihbibliotheken spuken, sind ebenfalls solche pgo_382.035
kräftig exceptionelle Gestalten, an deren Stelle der höhere Roman das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0404" n="382"/><lb n="pgo_382.001"/>
eine Menge von Personen nebeneinander, bringt sie in die verschiedenartigsten <lb n="pgo_382.002"/>
Beziehungen, und erst später ergiebt sich ein tieferes Jnteresse, <lb n="pgo_382.003"/>
ein ethisches Band, das sie schon früher und vielleicht in entgegengesetzter <lb n="pgo_382.004"/>
Weise verknüpft, als ihre jetzige Gemeinsamkeit. Oder dieselbe Person <lb n="pgo_382.005"/>
tritt in doppelter Verkleidung auf, führt zwei kontrastirende Rollen durch <lb n="pgo_382.006"/>
und überrascht, wenn sie die Maske abnimmt, wie z. B. in Balzac's <lb n="pgo_382.007"/>
&#x201E;Clotilde von Lusignan.&#x201C; Das Jnkognito ist für die Romanhelden <lb n="pgo_382.008"/>
wesentlich; erst später knöpfen sie ihren Rock auf und zeigen uns ihren <lb n="pgo_382.009"/>
Stern. Diese <hi rendition="#g">Romantik</hi> gehört einmal zum modernen <hi rendition="#g">Roman,</hi> und <lb n="pgo_382.010"/>
wenn man sie tadeln wollte, so verkennt man das Wesen einer Dichtform, <lb n="pgo_382.011"/>
die überhaupt einen vorwiegend stoffartigen Charakter hat und an <lb n="pgo_382.012"/>
der Grenze der Prosa steht. Sie bildet das Gegengewicht gegen die <lb n="pgo_382.013"/>
breite geordnete Prosa unserer Verhältnisse, welche dem Menschen von <lb n="pgo_382.014"/>
Hause aus das polizeiliche und staatsbürgerliche Etikette anhängt und <lb n="pgo_382.015"/>
ihn in den bestimmten Rubriken irgend eines Registers von der Wiege <lb n="pgo_382.016"/>
bis zum Grabe unterbringt. Es kommt nur darauf an, daß die romantischen <lb n="pgo_382.017"/>
Grenzen in den aufgeschwemmten Schichten unserer Kultur mit <lb n="pgo_382.018"/>
richtigem Jnstinkt aufgespürt werden. Da sind zunächst die großen <lb n="pgo_382.019"/>
Centralpunkte der Weltstädte, wo die Häufung aller Jnteressen die wunderbarsten <lb n="pgo_382.020"/>
Kollisionen erzeugen kann! Das fahrende Vagabondenthum <lb n="pgo_382.021"/>
in seiner Ungebundenheit emancipirt sich von der Strenge der bürgerlichen <lb n="pgo_382.022"/>
Sitte. Jhm gehört die schönste Zauberblüthe der geheimnißvollen <lb n="pgo_382.023"/>
Romantik an, Goethe's Mignon. Neuerdings hat Holtei dies Vagabondenleben <lb n="pgo_382.024"/>
mit erschöpfender Gründlichkeit in seinem bekannten Roman <lb n="pgo_382.025"/>
behandelt. Jhm am nächsten steht das Leben der Künstler und Literaten, <lb n="pgo_382.026"/>
dessen Romantik aus dem fast durchgängigen Mißverhältniß einer schöpferischen, <lb n="pgo_382.027"/>
auf das Jahrhundert wirkenden Geisteskraft und der socialen <lb n="pgo_382.028"/>
Lebensstellung hervorgeht! Diese Romane sind nach dem Vorgang unserer <lb n="pgo_382.029"/>
romantischen Schule sehr beliebt. Kampf des exklusiven Genius, <lb n="pgo_382.030"/>
dem Alles erlaubt ist, mit den Schranken der Gesellschaft ist ihr Grundthema! <lb n="pgo_382.031"/>
Dennoch ist diese Romantik dem Roman nicht günstig &#x2014; die <lb n="pgo_382.032"/>
Literatur in der Literatur, die Kunst in der Kunst, das ist ein ästhetischer <lb n="pgo_382.033"/>
Cirkel, der zu sehr in sich selbst verläuft. Die Räuber, Piraten, Ritter <lb n="pgo_382.034"/>
und Geister, die noch in den Leihbibliotheken spuken, sind ebenfalls solche <lb n="pgo_382.035"/>
kräftig exceptionelle Gestalten, an deren Stelle der höhere Roman das
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0404] pgo_382.001 eine Menge von Personen nebeneinander, bringt sie in die verschiedenartigsten pgo_382.002 Beziehungen, und erst später ergiebt sich ein tieferes Jnteresse, pgo_382.003 ein ethisches Band, das sie schon früher und vielleicht in entgegengesetzter pgo_382.004 Weise verknüpft, als ihre jetzige Gemeinsamkeit. Oder dieselbe Person pgo_382.005 tritt in doppelter Verkleidung auf, führt zwei kontrastirende Rollen durch pgo_382.006 und überrascht, wenn sie die Maske abnimmt, wie z. B. in Balzac's pgo_382.007 „Clotilde von Lusignan.“ Das Jnkognito ist für die Romanhelden pgo_382.008 wesentlich; erst später knöpfen sie ihren Rock auf und zeigen uns ihren pgo_382.009 Stern. Diese Romantik gehört einmal zum modernen Roman, und pgo_382.010 wenn man sie tadeln wollte, so verkennt man das Wesen einer Dichtform, pgo_382.011 die überhaupt einen vorwiegend stoffartigen Charakter hat und an pgo_382.012 der Grenze der Prosa steht. Sie bildet das Gegengewicht gegen die pgo_382.013 breite geordnete Prosa unserer Verhältnisse, welche dem Menschen von pgo_382.014 Hause aus das polizeiliche und staatsbürgerliche Etikette anhängt und pgo_382.015 ihn in den bestimmten Rubriken irgend eines Registers von der Wiege pgo_382.016 bis zum Grabe unterbringt. Es kommt nur darauf an, daß die romantischen pgo_382.017 Grenzen in den aufgeschwemmten Schichten unserer Kultur mit pgo_382.018 richtigem Jnstinkt aufgespürt werden. Da sind zunächst die großen pgo_382.019 Centralpunkte der Weltstädte, wo die Häufung aller Jnteressen die wunderbarsten pgo_382.020 Kollisionen erzeugen kann! Das fahrende Vagabondenthum pgo_382.021 in seiner Ungebundenheit emancipirt sich von der Strenge der bürgerlichen pgo_382.022 Sitte. Jhm gehört die schönste Zauberblüthe der geheimnißvollen pgo_382.023 Romantik an, Goethe's Mignon. Neuerdings hat Holtei dies Vagabondenleben pgo_382.024 mit erschöpfender Gründlichkeit in seinem bekannten Roman pgo_382.025 behandelt. Jhm am nächsten steht das Leben der Künstler und Literaten, pgo_382.026 dessen Romantik aus dem fast durchgängigen Mißverhältniß einer schöpferischen, pgo_382.027 auf das Jahrhundert wirkenden Geisteskraft und der socialen pgo_382.028 Lebensstellung hervorgeht! Diese Romane sind nach dem Vorgang unserer pgo_382.029 romantischen Schule sehr beliebt. Kampf des exklusiven Genius, pgo_382.030 dem Alles erlaubt ist, mit den Schranken der Gesellschaft ist ihr Grundthema! pgo_382.031 Dennoch ist diese Romantik dem Roman nicht günstig — die pgo_382.032 Literatur in der Literatur, die Kunst in der Kunst, das ist ein ästhetischer pgo_382.033 Cirkel, der zu sehr in sich selbst verläuft. Die Räuber, Piraten, Ritter pgo_382.034 und Geister, die noch in den Leihbibliotheken spuken, sind ebenfalls solche pgo_382.035 kräftig exceptionelle Gestalten, an deren Stelle der höhere Roman das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/404
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/404>, abgerufen am 22.11.2024.