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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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geräumige und bequeme Form treten, welche auch die realistische Prosa pgo_379.002
der verwickeltsten Kulturverhältnisse in sich aufzunehmen und wiederzuspiegeln pgo_379.003
fähig ist. Der Roman, das moderne Epos in Prosa, das sich pgo_379.004
nur an die allgemeinsten Gesetze des epischen Styles bindet und sonst die pgo_379.005
größten Freiheiten der Auffassung und Behandlung verträgt, ist daher pgo_379.006
ein willkommener Ersatz für die alte Volksepopöe! Wir haben indeß pgo_379.007
schon früher erwähnt, daß wir seine ausschließliche Berechtigung für die pgo_379.008
epische Darstellung des Kulturlebens der Gegenwart nicht anerkennen; pgo_379.009
daß wir ein modernes rhythmisches, kunstgeadeltes Epos im strengeren pgo_379.010
Styl für möglich halten, in welchem zwar unsere Kultur nicht erschöpfend pgo_379.011
bis in ihre Einzelnheiten, aber doch in ihren Höhenpunkten, in ihren pgo_379.012
wesentlichen Zügen genugsam dargestellt wird, um der Nachwelt ein dichterisch pgo_379.013
markirtes Gemälde unseres Jahrhunderts zu hinterlassen. Es pgo_379.014
bedarf nur eines großen Genius und eines kühnen Griffes zum thatsächlichen pgo_379.015
Beweise unserer Ansicht. Was aber ein Kulturgemälde der Vergangenheit pgo_379.016
betrifft, so werden wir stets dem historischen Epos den Vorzug pgo_379.017
vor dem historischen Roman ertheilen.

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Wir wollen nun sehn, was dem Roman mit dem Epos gemeinsam pgo_379.019
ist, und was beide von einander unterscheidet. Das Epos entrollt sein pgo_379.020
Kulturgemälde, indem es meistens einen Völkerkampf darstellt; der pgo_379.021
Roman hält sich an ein individuelles Erlebniß! Das Epos wählt zu pgo_379.022
seinen Helden hervorragende Charaktere, geschichtlich gefeierte Namen; pgo_379.023
der Roman vermeidet sie und sucht das Weltbild, das er darstellt, an das pgo_379.024
Geschick erfundener Helden zu knüpfen. Dies hängt damit zusammen, pgo_379.025
daß der epische Dichter das naive Organ seines Volkes ist, der Romandichter pgo_379.026
dagegen sein Werk mit dem vollen Bewußtsein einer frei erfindenden pgo_379.027
Phantasie schafft. Wenn er in der Darstellung der äußern Welt den pgo_379.028
Regeln des epischen Styles folgt: so darf er dagegen auf die innern Entwickelungen, pgo_379.029
auf die Dialektik der Empfindungen, auf die Geheimnisse pgo_379.030
des Seelenlebens, auf die Magie und wechselnde Beleuchtung der Gedankenwelt pgo_379.031
eine sinnige, eingehende Betrachtung wenden -- die psychologische pgo_379.032
Malerei ist bis zu mikroskopischer Ausführung verstattet. Die Würde pgo_379.033
und Erhabenheit des heroischen Epos kann der Roman nicht erreichen; pgo_379.034
dagegen darf er von einer größeren pathologischen Wärme durchdrungen

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geräumige und bequeme Form treten, welche auch die realistische Prosa pgo_379.002
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fähig ist. Der Roman, das moderne Epos in Prosa, das sich pgo_379.004
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Phantasie schafft. Wenn er in der Darstellung der äußern Welt den pgo_379.028
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Malerei ist bis zu mikroskopischer Ausführung verstattet. Die Würde pgo_379.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/401>, abgerufen am 22.11.2024.