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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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romanischen Dichtformen eroberte und auf die orientalischen hinwies, pgo_016.002
daß sie Shakespeare und Calderon lebensfähig auf die deutsche Bühne pgo_016.003
verpflanzte und daraus fruchtbare Gesichtspunkte für die Entwickelung pgo_016.004
des deutschen Drama's gewann, die sie freilich in der eigenen Praxis pgo_016.005
mißverstand oder verleugnete, theils in der Geltendmachung eines volksthümlichen pgo_016.006
Princips, gegenüber der antiken Richtung der Klassiker, wenngleich pgo_016.007
diese Volksthümlichkeit eine verkehrte war, indem sie auf mittelalterlichen pgo_016.008
Voraussetzungen beruhte. Tieck's "dramaturgische Blätter" pgo_016.009
und August Wilhelm Schlegel's "Vorlesungen über dramatische pgo_016.010
Kunst" sind die Epochemachenden Werke der romantischen Poetik.

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Die ästhetische Wissenschaft selbst wurde von den Koryphäen der pgo_016.012
Philosophie, Schelling und Hegel, weiter entwickelt. Der Standpunkt pgo_016.013
Schelling's, die intellectuelle Anschauung, mußte für die Philosophie pgo_016.014
der Kunst sehr fruchtbar werden; in der That fand er in ihr das pgo_016.015
allgemeine Organon der Philosophie und den Schlußstein des ganzen pgo_016.016
Gewölbes*). Die Natur ist zweckmäßig, ohne zweckmäßig hervorgebracht pgo_016.017
zu sein; in der Kunst ist nicht nur das Product, sondern auch die pgo_016.018
Production zweckmäßig, ohne das Bewußtlose, den inneren bewältigenden pgo_016.019
Drang, die Macht des Genius auszuschließen. Er nennt S. 460 pgo_016.020
die Kunst "die einzige und ewige Offenbarung, die es giebt;" das Dichtungsvermögen pgo_016.021
aber, die Einbildungskraft und die idealische Welt der pgo_016.022
Kunst die höchste Potenz der productiven Anschauung." (S. 473.) Ueber pgo_016.023
das Verhältniß der Kunst zur Natur spricht er sich in seiner vortrefflichen pgo_016.024
Rede**) dahin aus, daß nicht die todte Reproduction der Natur das pgo_016.025
Wesen der Kunst sein könne, sondern das Produciren der Jdee, pgo_016.026
welche in der Natur sich darstelle. Die höchste Stellung, welche Schelling pgo_016.027
der Kunst einräumte, wurde ihr zwar von Hegel nicht zuerkannt; pgo_016.028
aber dieser gründliche, systematische Denker, der nicht blos alle Wissenschaften pgo_016.029
in ein großes System vereinigte, sondern auch jede einzelne pgo_016.030
wieder mit seltenem Talent architektonisch ausbaute, gab auch das erste pgo_016.031
Lehrgebäude der "Aesthetik," mit vorzüglicher Berücksichtigung der

*) pgo_016.032
Schelling, System des transscendentalen Jdealismus S. 19.
**) pgo_016.033
Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur. Schelling's gesammelte pgo_016.034
Schriften I. S. 342-396.

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romanischen Dichtformen eroberte und auf die orientalischen hinwies, pgo_016.002
daß sie Shakespeare und Calderon lebensfähig auf die deutsche Bühne pgo_016.003
verpflanzte und daraus fruchtbare Gesichtspunkte für die Entwickelung pgo_016.004
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Kunst“ sind die Epochemachenden Werke der romantischen Poetik.

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Die ästhetische Wissenschaft selbst wurde von den Koryphäen der pgo_016.012
Philosophie, Schelling und Hegel, weiter entwickelt. Der Standpunkt pgo_016.013
Schelling's, die intellectuelle Anschauung, mußte für die Philosophie pgo_016.014
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Gewölbes*). Die Natur ist zweckmäßig, ohne zweckmäßig hervorgebracht pgo_016.017
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aber, die Einbildungskraft und die idealische Welt der pgo_016.022
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in ein großes System vereinigte, sondern auch jede einzelne pgo_016.030
wieder mit seltenem Talent architektonisch ausbaute, gab auch das erste pgo_016.031
Lehrgebäude der „Aesthetik,“ mit vorzüglicher Berücksichtigung der

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Schelling, System des transscendentalen Jdealismus S. 19.
**) pgo_016.033
Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur. Schelling's gesammelte pgo_016.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/38>, abgerufen am 16.04.2024.