pgo_344.001 Briefform in einigen neueren Romanen. Der Dialog ist im Drama pgo_344.002 wesentliche Form, im Epos zufällige Einkleidung.
pgo_344.003 Was nun schließlich die Versform des Epos betrifft, so kommen die pgo_344.004 indischen Slokas, das Versmaaß des Firdusi, die Hexameter Homer's pgo_344.005 und Virgil's und die Nibelungen- und Gudrunstrophe darin überein, pgo_344.006 daß ihr Gang vollwogend und majestätisch, die Verszeilen langgestreckt pgo_344.007 und geräumig und des rhythmischen Wechsels fähig sind. Die italienischen pgo_344.008 Strophen, Dante's Terzinen, Tasso's und Ariost's Stanzen erreichen pgo_344.009 dasselbe durch eine Architektonik, welche vorzugsweise auf den Säulen des pgo_344.010 Reimes ruht. Der moderne Roman bedient sich der Prosa, welche allerdings pgo_344.011 eine minder kunstvolle, aber geräumigere Form für die Darstellung pgo_344.012 weitverzweigter Kulturverhältnisse ist. Die poetische Erzählung dagegen pgo_344.013 schillert in den buntesten Rhythmen, wie es der Charakter dieser farbenreichen pgo_344.014 Zwittergattung mit sich bringt.
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Zweiter Abschnitt.
pgo_344.016 Die Volksepopöe.
pgo_344.017 Die Volksepopöe ist die große Stammmutter aller epischen Dichtung. pgo_344.018 Sie gehört einer Kulturepoche an, in welcher das Leben selbst noch keine pgo_344.019 feste, verständige, organische Gliederung gewonnen, sondern sich gleichsam pgo_344.020 durch die freie That des Menschen immer von Neuem erzeugte. Der
pgo_344.021 aufgeschlossene Sinn für das Schöne und Rechte, Gute und Wahre, der pgo_344.022 Jnstinkt des Gemüthes bestimmt allein die Handlungsweise der Menschen. pgo_344.023 Die barbarische Zeit roher Gewaltthat liegt hinter ihnen; aber noch sind pgo_344.024 sie nicht in ein Zeitalter getreten, in welchem die Norm bestimmter und pgo_344.025 fester Satzungen als Staatsmacht, religiöses und moralisches Kredo den pgo_344.026 Willen des Einzelnen einem allgemeinen Gebot unterordnet. Noch fehlen pgo_344.027 alle weitläufigen Vermittelungen einer Kultur, welche tausend Hände für pgo_344.028 einander arbeiten läßt, sodaß weder der Gebrauch noch der Genuß frisch pgo_344.029 von der Quelle schöpft, sondern sich nur ein Produkt aneignet, das bereits pgo_344.030 die Stempel einer vielfachen Arbeit trägt. Wie ganz anders ist das pgo_344.031 jugendliche, das heroische Zeitalter! Da hat der Held das Schiff selbst
pgo_344.001 Briefform in einigen neueren Romanen. Der Dialog ist im Drama pgo_344.002 wesentliche Form, im Epos zufällige Einkleidung.
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Zweiter Abschnitt.
pgo_344.016 Die Volksepopöe.
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pgo_344.021 aufgeschlossene Sinn für das Schöne und Rechte, Gute und Wahre, der pgo_344.022 Jnstinkt des Gemüthes bestimmt allein die Handlungsweise der Menschen. pgo_344.023 Die barbarische Zeit roher Gewaltthat liegt hinter ihnen; aber noch sind pgo_344.024 sie nicht in ein Zeitalter getreten, in welchem die Norm bestimmter und pgo_344.025 fester Satzungen als Staatsmacht, religiöses und moralisches Kredo den pgo_344.026 Willen des Einzelnen einem allgemeinen Gebot unterordnet. Noch fehlen pgo_344.027 alle weitläufigen Vermittelungen einer Kultur, welche tausend Hände für pgo_344.028 einander arbeiten läßt, sodaß weder der Gebrauch noch der Genuß frisch pgo_344.029 von der Quelle schöpft, sondern sich nur ein Produkt aneignet, das bereits pgo_344.030 die Stempel einer vielfachen Arbeit trägt. Wie ganz anders ist das pgo_344.031 jugendliche, das heroische Zeitalter! Da hat der Held das Schiff selbst
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/366>, abgerufen am 22.11.2024.
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