pgo_337.001 Götter verführte. Die Dichter der Kunstepen verkannten die tiefere pgo_337.002 Bedeutung, welche der Homerischen Göttermaschinerie zu Grunde liegt! pgo_337.003 Was waren jene Götter anders, als die verkörperten ewigen Mächte der pgo_337.004 Natur und des Lebens? Eine solche Verkörperung hatte nur Sinn in der pgo_337.005 Zeit des Homer und Phidias und konnte in anderen Zeiten, wo der pgo_337.006 Glauben an die lebendigen Götter fehlte, nur leblose, zwischen Himmel pgo_337.007 und Erde schwebende Schatten hervorbringen. Dagegen war auch in pgo_337.008 diesen Verirrungen die Weltanschauung, auf welcher das Epos ruht, auf pgo_337.009 das Klarste ausgesprochen! Es ist jene höhere Nothwendigkeit des ewig pgo_337.010 waltenden Gesetzes, welchem die Natur und die Menschen unterthan. pgo_337.011 Dies Gesetz offenbart sich im einzelnen Falle als Zufall, ein Recht des pgo_337.012 Epos, das in der Tragödie nicht gilt. Der Tod, ein Gesetz der Gattung, pgo_337.013 dem der Einzelne zum Opfer fallen muß, springt wie ein geschütteltes pgo_337.014 Loos aus dem Helm des Epikers -- und es erfüllt uns mit Wehmuth, pgo_337.015 wenn das Gesetz die Herrlichsten in ihrer Jugendblüthe dahinrafft. pgo_337.016 Wir klagen um Patroklos, um Hektor, um Achilleus, um Siegfried, pgo_337.017 um Sijawusch -- es ist die Klage um das allgemeine Loos der Sterblichen, pgo_337.018 die am frühen Grabe der Jugend und Kraft und Lebensfülle um pgo_337.019 so schmerzlicher ertönt. Der Krieg selbst erscheint in der epischen Darstellung pgo_337.020 als eine höhere Nothwendigkeit, welche die Völker gegeneinander, pgo_337.021 Europa gegen Asien, Jran gegen Turan waffnet! Welche launenhafte, pgo_337.022 abenteuerliche Naturmacht ist das Meer! Wie verschwindet die Kraft der pgo_337.023 Tapfersten, die List der Gewandtesten gegen das Geschick, das der Ocean pgo_337.024 über sie verhängt! Wohin nicht wird Odysseus und Aeneas verschlagen! pgo_337.025 Eine Welt der Abenteuer und des Zufalles für den Menschen; aber diese pgo_337.026 Zufälle sind nur der Wogenschlag des Oceans, nur die Ausflüsse einer pgo_337.027 Naturgewalt, gegen deren festgeordnetes Gesetz die Kraft der Helden oft pgo_337.028 vergebens ankämpft! Aber daß sie kämpft, daß sie ausdauert und sich pgo_337.029 bewährt, daß sie ruhmvoll untergeht oder siegreich zum Ziel gelangt -- pgo_337.030 das giebt uns ein Bild epischer Thatkraft, die sich in immer neuem Anlauf pgo_337.031 bewährt. Ja selbst die Liebe erscheint als eine Naturmacht; der pgo_337.032 Epiker kennt die strenge Sittlichkeit des Tragikers nicht. Aphrodite pgo_337.033 beschützt Paris und Helena -- und die leichtsinnige Ehebrecherin, die Urheberin pgo_337.034 des großen Völkerkrieges, kehrt nach Jliums Zerstörung an der Seite pgo_337.035 ihres Gatten und mit dem alten Rechte der Gattin in die Heimath zurück.
pgo_337.001 Götter verführte. Die Dichter der Kunstepen verkannten die tiefere pgo_337.002 Bedeutung, welche der Homerischen Göttermaschinerie zu Grunde liegt! pgo_337.003 Was waren jene Götter anders, als die verkörperten ewigen Mächte der pgo_337.004 Natur und des Lebens? Eine solche Verkörperung hatte nur Sinn in der pgo_337.005 Zeit des Homer und Phidias und konnte in anderen Zeiten, wo der pgo_337.006 Glauben an die lebendigen Götter fehlte, nur leblose, zwischen Himmel pgo_337.007 und Erde schwebende Schatten hervorbringen. Dagegen war auch in pgo_337.008 diesen Verirrungen die Weltanschauung, auf welcher das Epos ruht, auf pgo_337.009 das Klarste ausgesprochen! Es ist jene höhere Nothwendigkeit des ewig pgo_337.010 waltenden Gesetzes, welchem die Natur und die Menschen unterthan. pgo_337.011 Dies Gesetz offenbart sich im einzelnen Falle als Zufall, ein Recht des pgo_337.012 Epos, das in der Tragödie nicht gilt. Der Tod, ein Gesetz der Gattung, pgo_337.013 dem der Einzelne zum Opfer fallen muß, springt wie ein geschütteltes pgo_337.014 Loos aus dem Helm des Epikers — und es erfüllt uns mit Wehmuth, pgo_337.015 wenn das Gesetz die Herrlichsten in ihrer Jugendblüthe dahinrafft. pgo_337.016 Wir klagen um Patroklos, um Hektor, um Achilleus, um Siegfried, pgo_337.017 um Sijawusch — es ist die Klage um das allgemeine Loos der Sterblichen, pgo_337.018 die am frühen Grabe der Jugend und Kraft und Lebensfülle um pgo_337.019 so schmerzlicher ertönt. Der Krieg selbst erscheint in der epischen Darstellung pgo_337.020 als eine höhere Nothwendigkeit, welche die Völker gegeneinander, pgo_337.021 Europa gegen Asien, Jran gegen Turan waffnet! Welche launenhafte, pgo_337.022 abenteuerliche Naturmacht ist das Meer! Wie verschwindet die Kraft der pgo_337.023 Tapfersten, die List der Gewandtesten gegen das Geschick, das der Ocean pgo_337.024 über sie verhängt! Wohin nicht wird Odysseus und Aeneas verschlagen! pgo_337.025 Eine Welt der Abenteuer und des Zufalles für den Menschen; aber diese pgo_337.026 Zufälle sind nur der Wogenschlag des Oceans, nur die Ausflüsse einer pgo_337.027 Naturgewalt, gegen deren festgeordnetes Gesetz die Kraft der Helden oft pgo_337.028 vergebens ankämpft! Aber daß sie kämpft, daß sie ausdauert und sich pgo_337.029 bewährt, daß sie ruhmvoll untergeht oder siegreich zum Ziel gelangt — pgo_337.030 das giebt uns ein Bild epischer Thatkraft, die sich in immer neuem Anlauf pgo_337.031 bewährt. Ja selbst die Liebe erscheint als eine Naturmacht; der pgo_337.032 Epiker kennt die strenge Sittlichkeit des Tragikers nicht. Aphrodite pgo_337.033 beschützt Paris und Helena — und die leichtsinnige Ehebrecherin, die Urheberin pgo_337.034 des großen Völkerkrieges, kehrt nach Jliums Zerstörung an der Seite pgo_337.035 ihres Gatten und mit dem alten Rechte der Gattin in die Heimath zurück.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/359>, abgerufen am 22.11.2024.
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