Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_334.001 Doch was ihr thut, laßt mich aus eurem Rath! pgo_334.029 Jch kann nicht lange prüfen oder wählen, pgo_334.030 Bedürft ihr meiner zur bestimmten That, pgo_334.031 Dann ruft den Tell! es soll an ihm nicht fehlen -- pgo_334.032 pgo_334.001 Doch was ihr thut, laßt mich aus eurem Rath! pgo_334.029 Jch kann nicht lange prüfen oder wählen, pgo_334.030 Bedürft ihr meiner zur bestimmten That, pgo_334.031 Dann ruft den Tell! es soll an ihm nicht fehlen — pgo_334.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0356" n="334"/><lb n="pgo_334.001"/> Drama; aber der Held des Epos geht mit der Masse, der Held des <lb n="pgo_334.002"/> Drama's isolirt sich. Ein Reformator z. B., welcher aus sich heraus, im <lb n="pgo_334.003"/> Gegensatze gegen die anerkannten Autoritäten oder die öffentliche Meinung <lb n="pgo_334.004"/> seines Jahrhunderts, eine neue Aera des Geistes heraufführt, ist niemals <lb n="pgo_334.005"/> ein epischer Held. Um den Haupthelden gruppiren sich im Epos die <lb n="pgo_334.006"/> andern in einer pyramidalen Gruppe; er ragt nur einen Kopf hoch über <lb n="pgo_334.007"/> sie hervor. Die Gliederung der Gruppe selbst muß das Werk einer planvollen <lb n="pgo_334.008"/> Kunst sein, welche indeß die Schärfe des dramatischen Kontrastes <lb n="pgo_334.009"/> vermeidet! Der Kontrast der epischen Charaktere ist schon deshalb ein <lb n="pgo_334.010"/> sanfterer, weil im Drama die Charaktere, bei der Verfolgung ganz <lb n="pgo_334.011"/> bestimmter Zwecke, gleichsam mit ihrer Schneide scharf aufeinandertreffen, <lb n="pgo_334.012"/> während im Epos die vielseitig entwickelten Charaktere in umfassender <lb n="pgo_334.013"/> Lebensentfaltung mehr Berührungspunkte haben. Das Drama liebt <lb n="pgo_334.014"/> scharfe Zuspitzung, das Epos harmonische Abrundung. Schon die reicheren <lb n="pgo_334.015"/> Mittel, welche dem Epiker zur Zeichnung der Charaktere zu Gebote <lb n="pgo_334.016"/> stehn, schon die behaglichere Ausführung, die ihm verstattet ist, unterscheiden <lb n="pgo_334.017"/> seine Art und Weise zu charakterisiren wesentlich von der des Dramatikers. <lb n="pgo_334.018"/> Der Zorn des Achilleus wäre als charakteristisches Motiv für <lb n="pgo_334.019"/> diesen nur im raschen Auflodern des Augenblickes verwendbar, während <lb n="pgo_334.020"/> <hi rendition="#g">Homer,</hi> in direktem Gegensatze gegen den Dramatiker, gerade den thatlos <lb n="pgo_334.021"/> trotzenden Groll des Myrmidonenführers, sein Verharren bei den <lb n="pgo_334.022"/> Schiffen als episches Motiv benutzt, den Helden vom Schauplatze der <lb n="pgo_334.023"/> Handlung abtreten läßt und in langen Gesängen den Kampf vor Jlium <lb n="pgo_334.024"/> und das wachsende Unheil der Achaier schildert, das aus dieser Thatlosigkeit <lb n="pgo_334.025"/> ihres ersten Helden hervorgeht. Wenn <hi rendition="#g">Schiller</hi> indeß die Bedächtigkeit, <lb n="pgo_334.026"/> das schlicht thatkräftige Wesen seines „Tell,“ des Schweizer <lb n="pgo_334.027"/> Natursohnes, in ähnlicher Weise schildert, wenn er ihn sagen läßt:</p> <lb n="pgo_334.028"/> <lg> <l>Doch <hi rendition="#g">was</hi> ihr thut, laßt mich aus eurem <hi rendition="#g">Rath!</hi></l> <lb n="pgo_334.029"/> <l>Jch kann nicht lange prüfen oder wählen,</l> <lb n="pgo_334.030"/> <l>Bedürft ihr meiner zur bestimmten <hi rendition="#g">That,</hi></l> <lb n="pgo_334.031"/> <l>Dann ruft den Tell! es soll an ihm nicht fehlen —</l> </lg> <p><lb n="pgo_334.032"/> wenn er hierauf die Hauptscene des „Rütli“ spielen läßt, ohne daß der <lb n="pgo_334.033"/> dramatische Held zugegen ist: so hat er offenbar mehr in epischer, als in <lb n="pgo_334.034"/> dramatischer Weise charakterisirt, wie überhaupt die Massenentfaltung des <lb n="pgo_334.035"/> „Tell,“ der nationale Befreiungskampf, die Art, wie in Stauffacher, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [334/0356]
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Drama; aber der Held des Epos geht mit der Masse, der Held des pgo_334.002
Drama's isolirt sich. Ein Reformator z. B., welcher aus sich heraus, im pgo_334.003
Gegensatze gegen die anerkannten Autoritäten oder die öffentliche Meinung pgo_334.004
seines Jahrhunderts, eine neue Aera des Geistes heraufführt, ist niemals pgo_334.005
ein epischer Held. Um den Haupthelden gruppiren sich im Epos die pgo_334.006
andern in einer pyramidalen Gruppe; er ragt nur einen Kopf hoch über pgo_334.007
sie hervor. Die Gliederung der Gruppe selbst muß das Werk einer planvollen pgo_334.008
Kunst sein, welche indeß die Schärfe des dramatischen Kontrastes pgo_334.009
vermeidet! Der Kontrast der epischen Charaktere ist schon deshalb ein pgo_334.010
sanfterer, weil im Drama die Charaktere, bei der Verfolgung ganz pgo_334.011
bestimmter Zwecke, gleichsam mit ihrer Schneide scharf aufeinandertreffen, pgo_334.012
während im Epos die vielseitig entwickelten Charaktere in umfassender pgo_334.013
Lebensentfaltung mehr Berührungspunkte haben. Das Drama liebt pgo_334.014
scharfe Zuspitzung, das Epos harmonische Abrundung. Schon die reicheren pgo_334.015
Mittel, welche dem Epiker zur Zeichnung der Charaktere zu Gebote pgo_334.016
stehn, schon die behaglichere Ausführung, die ihm verstattet ist, unterscheiden pgo_334.017
seine Art und Weise zu charakterisiren wesentlich von der des Dramatikers. pgo_334.018
Der Zorn des Achilleus wäre als charakteristisches Motiv für pgo_334.019
diesen nur im raschen Auflodern des Augenblickes verwendbar, während pgo_334.020
Homer, in direktem Gegensatze gegen den Dramatiker, gerade den thatlos pgo_334.021
trotzenden Groll des Myrmidonenführers, sein Verharren bei den pgo_334.022
Schiffen als episches Motiv benutzt, den Helden vom Schauplatze der pgo_334.023
Handlung abtreten läßt und in langen Gesängen den Kampf vor Jlium pgo_334.024
und das wachsende Unheil der Achaier schildert, das aus dieser Thatlosigkeit pgo_334.025
ihres ersten Helden hervorgeht. Wenn Schiller indeß die Bedächtigkeit, pgo_334.026
das schlicht thatkräftige Wesen seines „Tell,“ des Schweizer pgo_334.027
Natursohnes, in ähnlicher Weise schildert, wenn er ihn sagen läßt:
pgo_334.028
Doch was ihr thut, laßt mich aus eurem Rath! pgo_334.029
Jch kann nicht lange prüfen oder wählen, pgo_334.030
Bedürft ihr meiner zur bestimmten That, pgo_334.031
Dann ruft den Tell! es soll an ihm nicht fehlen —
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wenn er hierauf die Hauptscene des „Rütli“ spielen läßt, ohne daß der pgo_334.033
dramatische Held zugegen ist: so hat er offenbar mehr in epischer, als in pgo_334.034
dramatischer Weise charakterisirt, wie überhaupt die Massenentfaltung des pgo_334.035
„Tell,“ der nationale Befreiungskampf, die Art, wie in Stauffacher,
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