Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_330.001 Wo er mit Thränen und Seufzern und innigem Gram sich zerquälend pgo_330.020 Auf das verödete Meer hinschauete, Thränen vergießend. pgo_330.021 pgo_330.001 Wo er mit Thränen und Seufzern und innigem Gram sich zerquälend pgo_330.020 Auf das verödete Meer hinschauete, Thränen vergießend. pgo_330.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0352" n="330"/><lb n="pgo_330.001"/> Hintergrund; das Epos ist wesentlich Kulturgemälde. Doch auch die <lb n="pgo_330.002"/> Naturschilderung ist, nach den früher aufgestellten Grundsätzen, berechtigt, <lb n="pgo_330.003"/> die elementaren Mächte, Stürme, Seuchen u. s. f. spielen eine große <lb n="pgo_330.004"/> Rolle im Epos. Homer ist ein Meister in der Schilderung des Seesturmes, <lb n="pgo_330.005"/> er hat dem bewegten Leben des Meeres alle Geheimnisse, alle <lb n="pgo_330.006"/> Farben abgelauscht. Schwächer ist diese Seemalerei in dem nordischen <lb n="pgo_330.007"/> Seeepos: <hi rendition="#g">Gudrun,</hi> während sie in der Luisiade des Camoëns ihren <lb n="pgo_330.008"/> künstlerischen Höhepunkt erreicht. Doch es finden sich auch bei Homer <lb n="pgo_330.009"/> Stellen, welche an die Landschaftsmalerei der modernen Romane <lb n="pgo_330.010"/> erinnern. So z. B. beschreibt er die Umhegung der Grotte der Kalypso <lb n="pgo_330.011"/> mit Erlen, Pappeln und Cypressen, den in üppigem Wuchs rankenden <lb n="pgo_330.012"/> Weinstock, die vier Quellen, die ihr blinkendes Wasser durch schwellende <lb n="pgo_330.013"/> Wiesen, reich an Violen und Eppich, in schlängelndem Lauf ergießen. <lb n="pgo_330.014"/> Doch um das Landschaftsbild zittert der Hauch einer <hi rendition="#g">epischen Stimmung,</hi> <lb n="pgo_330.015"/> wie wir es nennen möchten! Der Epiker malt, ohne lyrische <lb n="pgo_330.016"/> Ausführung, ein Bild, dessen Bedeutung wir erst erfassen, wenn wir zu <lb n="pgo_330.017"/> seiner Ergänzung den auf Felsen und sandigen Dünen sitzenden Odysseus <lb n="pgo_330.018"/> in's Auge fassen,</p> <lb n="pgo_330.019"/> <lg> <l>Wo er mit Thränen und Seufzern und innigem Gram sich zerquälend</l> <lb n="pgo_330.020"/> <l>Auf das verödete Meer hinschauete, Thränen vergießend.</l> </lg> <p><lb n="pgo_330.021"/> Die Grotte der Kalypso fesselt den Dulder nicht; er flieht aus ihrer <lb n="pgo_330.022"/> reizenden Umgebung an das öde Gestade des Meeres, um sich dort ganz <lb n="pgo_330.023"/> seiner Sehnsucht nach der Heimath hinzugeben. Der Lyriker hätte diesen <lb n="pgo_330.024"/> Gegensatz mit reichen Farben ausgemalt; der Epiker stellt beide Bilder <lb n="pgo_330.025"/> selbstständig hin und erhellt das eine durch das andere. Diese Grotte <lb n="pgo_330.026"/> der Kalypso wurde später mehrfach von den Epikern nachgeahmt, am <lb n="pgo_330.027"/> ausführlichsten von <hi rendition="#g">Tasso</hi> im Zaubergarten der Armida. Einen solchen <lb n="pgo_330.028"/> Bezug auf die Seele des Menschen muß aber das Landschaftsbild in der <lb n="pgo_330.029"/> epischen Dichtung immer haben. Wie charakteristisch sind Ossian's thauschwere, <lb n="pgo_330.030"/> grasige Hügel, blaue Ströme und Gewässer, dunkle Schatten <lb n="pgo_330.031"/> des Herbstes, obwohl bei ihm oft schon die epische Stimmung in's Lyrische <lb n="pgo_330.032"/> zerfließt. Auch in Jean Paul's Romanen malt sich die Landschaft nur <lb n="pgo_330.033"/> in der Seele des Helden, wie in einer <foreign xml:lang="lat">camera obscura</foreign> mit eigener <lb n="pgo_330.034"/> magischer Beleuchtung. Breitere Schildereien ohne solche tiefere Beziehung, <lb n="pgo_330.035"/> zu denen die Engländer neigen, seit Thomson's Zeit bis in ihre </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [330/0352]
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Hintergrund; das Epos ist wesentlich Kulturgemälde. Doch auch die pgo_330.002
Naturschilderung ist, nach den früher aufgestellten Grundsätzen, berechtigt, pgo_330.003
die elementaren Mächte, Stürme, Seuchen u. s. f. spielen eine große pgo_330.004
Rolle im Epos. Homer ist ein Meister in der Schilderung des Seesturmes, pgo_330.005
er hat dem bewegten Leben des Meeres alle Geheimnisse, alle pgo_330.006
Farben abgelauscht. Schwächer ist diese Seemalerei in dem nordischen pgo_330.007
Seeepos: Gudrun, während sie in der Luisiade des Camoëns ihren pgo_330.008
künstlerischen Höhepunkt erreicht. Doch es finden sich auch bei Homer pgo_330.009
Stellen, welche an die Landschaftsmalerei der modernen Romane pgo_330.010
erinnern. So z. B. beschreibt er die Umhegung der Grotte der Kalypso pgo_330.011
mit Erlen, Pappeln und Cypressen, den in üppigem Wuchs rankenden pgo_330.012
Weinstock, die vier Quellen, die ihr blinkendes Wasser durch schwellende pgo_330.013
Wiesen, reich an Violen und Eppich, in schlängelndem Lauf ergießen. pgo_330.014
Doch um das Landschaftsbild zittert der Hauch einer epischen Stimmung, pgo_330.015
wie wir es nennen möchten! Der Epiker malt, ohne lyrische pgo_330.016
Ausführung, ein Bild, dessen Bedeutung wir erst erfassen, wenn wir zu pgo_330.017
seiner Ergänzung den auf Felsen und sandigen Dünen sitzenden Odysseus pgo_330.018
in's Auge fassen,
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Wo er mit Thränen und Seufzern und innigem Gram sich zerquälend pgo_330.020
Auf das verödete Meer hinschauete, Thränen vergießend.
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Die Grotte der Kalypso fesselt den Dulder nicht; er flieht aus ihrer pgo_330.022
reizenden Umgebung an das öde Gestade des Meeres, um sich dort ganz pgo_330.023
seiner Sehnsucht nach der Heimath hinzugeben. Der Lyriker hätte diesen pgo_330.024
Gegensatz mit reichen Farben ausgemalt; der Epiker stellt beide Bilder pgo_330.025
selbstständig hin und erhellt das eine durch das andere. Diese Grotte pgo_330.026
der Kalypso wurde später mehrfach von den Epikern nachgeahmt, am pgo_330.027
ausführlichsten von Tasso im Zaubergarten der Armida. Einen solchen pgo_330.028
Bezug auf die Seele des Menschen muß aber das Landschaftsbild in der pgo_330.029
epischen Dichtung immer haben. Wie charakteristisch sind Ossian's thauschwere, pgo_330.030
grasige Hügel, blaue Ströme und Gewässer, dunkle Schatten pgo_330.031
des Herbstes, obwohl bei ihm oft schon die epische Stimmung in's Lyrische pgo_330.032
zerfließt. Auch in Jean Paul's Romanen malt sich die Landschaft nur pgo_330.033
in der Seele des Helden, wie in einer camera obscura mit eigener pgo_330.034
magischer Beleuchtung. Breitere Schildereien ohne solche tiefere Beziehung, pgo_330.035
zu denen die Engländer neigen, seit Thomson's Zeit bis in ihre
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