Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_300.001
welche den ewigen Gehalt unserer Zeit für alle Zeiten auszusprechen pgo_300.002
bestrebt sind.

pgo_300.003
Auch für einen den Tiefen der Natur und den Räthseln des menschlichen pgo_300.004
Lebens zugewendeten Gedankenflug ist die Ode eine treffliche Form, pgo_300.005
nur muß sie nicht einer behaglich sinnenden Reflexion oder gar einem pgo_300.006
lehrhaften Tone verfallen, nicht abstrakte Begriffe oder allegorische Gestalten pgo_300.007
ansingen. Dies haben einige ältere englische und französische pgo_300.008
Odendichter nicht vermieden. Wenn Thomas die Zeit, Shenstone die pgo_300.009
Gesundheit, Akenside den Argwohn, Miß Carter die Weisheit, Collins pgo_300.010
die Leidenschaften, Thomas Warton den Selbstmord andichtet: so befinden pgo_300.011
wir uns unmittelbar im Gebiete einer nüchternen Reflexion, welche pgo_300.012
sich in aller Breite ausgießt, während die Ode nur im Schwung die pgo_300.013
leuchtenden Gipfel des Gedankens berühren darf. Hierin ist Klopstock pgo_300.014
nachahmenswerthes Vorbild, während Hölty sanftere Ergüsse edler pgo_300.015
Naturbegeisterung in anmuthige Rhythmen aushaucht. Gerade für die pgo_300.016
eigentliche "Ode" eignen sich die antiken Strophen, besonders in der pgo_300.017
gereimten Form, während die Hymne und Dithyrambe in ihrem freieren, pgo_300.018
stürmischen Takt die Weise Pindarischer Strophen oder der kühnsten pgo_300.019
rhythmischen Wechsel verlangen.

pgo_300.020
3. Die Dithyrambe.

pgo_300.021
Diese aus der Hymne hervorgegangene, aber ihr entgegengesetzte pgo_300.022
Dichtung, welche die ganze Fülle, den ganzen Taumel irdischer Beseligung pgo_300.023
athmet, darf man nicht für veraltet erklären, wenn auch schon Herder in pgo_300.024
der zweiten Sammlung seiner Fragmente behauptet, daß sie für unser pgo_300.025
Zeitalter nicht mehr passe, sondern für eine wenig gebildete sinnliche Zeit, pgo_300.026
in welcher sie auch ihren Ursprung genommen. Wenn Herder dabei an pgo_300.027
jene sclavischen Nachahmungen der Alten denkt, wie sie Willamov seiner pgo_300.028
Zeit versucht oder die Jtaliener Redi, Baruffaldi, Chiabrera, pgo_300.029
Magalotti
u. A., welche mit antiker Bacchusmaske einen durcheinander pgo_300.030
wogenden Verskarneval dichteten, so ist ihm nur Recht zu geben; denn pgo_300.031
der indische Bacchuszug, das monotone Evoegeschrei, das Schwenken pgo_300.032
eines gedankenlosen Thyrsus, Mänaden- und Satyrchöre mit einem pgo_300.033
gelehrten Tumult in Noten erläuterter Jnstrumente paßt durchaus nicht pgo_300.034
mehr in unsere Zeit. Anders bei Pindar und Bacchylides, seinem

pgo_300.001
welche den ewigen Gehalt unserer Zeit für alle Zeiten auszusprechen pgo_300.002
bestrebt sind.

pgo_300.003
Auch für einen den Tiefen der Natur und den Räthseln des menschlichen pgo_300.004
Lebens zugewendeten Gedankenflug ist die Ode eine treffliche Form, pgo_300.005
nur muß sie nicht einer behaglich sinnenden Reflexion oder gar einem pgo_300.006
lehrhaften Tone verfallen, nicht abstrakte Begriffe oder allegorische Gestalten pgo_300.007
ansingen. Dies haben einige ältere englische und französische pgo_300.008
Odendichter nicht vermieden. Wenn Thomas die Zeit, Shenstone die pgo_300.009
Gesundheit, Akenside den Argwohn, Miß Carter die Weisheit, Collins pgo_300.010
die Leidenschaften, Thomas Warton den Selbstmord andichtet: so befinden pgo_300.011
wir uns unmittelbar im Gebiete einer nüchternen Reflexion, welche pgo_300.012
sich in aller Breite ausgießt, während die Ode nur im Schwung die pgo_300.013
leuchtenden Gipfel des Gedankens berühren darf. Hierin ist Klopstock pgo_300.014
nachahmenswerthes Vorbild, während Hölty sanftere Ergüsse edler pgo_300.015
Naturbegeisterung in anmuthige Rhythmen aushaucht. Gerade für die pgo_300.016
eigentliche „Ode“ eignen sich die antiken Strophen, besonders in der pgo_300.017
gereimten Form, während die Hymne und Dithyrambe in ihrem freieren, pgo_300.018
stürmischen Takt die Weise Pindarischer Strophen oder der kühnsten pgo_300.019
rhythmischen Wechsel verlangen.

pgo_300.020
3. Die Dithyrambe.

pgo_300.021
Diese aus der Hymne hervorgegangene, aber ihr entgegengesetzte pgo_300.022
Dichtung, welche die ganze Fülle, den ganzen Taumel irdischer Beseligung pgo_300.023
athmet, darf man nicht für veraltet erklären, wenn auch schon Herder in pgo_300.024
der zweiten Sammlung seiner Fragmente behauptet, daß sie für unser pgo_300.025
Zeitalter nicht mehr passe, sondern für eine wenig gebildete sinnliche Zeit, pgo_300.026
in welcher sie auch ihren Ursprung genommen. Wenn Herder dabei an pgo_300.027
jene sclavischen Nachahmungen der Alten denkt, wie sie Willamov seiner pgo_300.028
Zeit versucht oder die Jtaliener Redi, Baruffaldi, Chiabrera, pgo_300.029
Magalotti
u. A., welche mit antiker Bacchusmaske einen durcheinander pgo_300.030
wogenden Verskarneval dichteten, so ist ihm nur Recht zu geben; denn pgo_300.031
der indische Bacchuszug, das monotone Evoëgeschrei, das Schwenken pgo_300.032
eines gedankenlosen Thyrsus, Mänaden- und Satyrchöre mit einem pgo_300.033
gelehrten Tumult in Noten erläuterter Jnstrumente paßt durchaus nicht pgo_300.034
mehr in unsere Zeit. Anders bei Pindar und Bacchylides, seinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0322" n="300"/><lb n="pgo_300.001"/>
welche den ewigen Gehalt unserer Zeit für alle Zeiten auszusprechen <lb n="pgo_300.002"/>
bestrebt sind.</p>
                <p><lb n="pgo_300.003"/>
Auch für einen den Tiefen der Natur und den Räthseln des menschlichen <lb n="pgo_300.004"/>
Lebens zugewendeten Gedankenflug ist die <hi rendition="#g">Ode</hi> eine treffliche Form, <lb n="pgo_300.005"/>
nur muß sie nicht einer behaglich sinnenden Reflexion oder gar einem <lb n="pgo_300.006"/>
lehrhaften Tone verfallen, nicht abstrakte Begriffe oder allegorische Gestalten <lb n="pgo_300.007"/>
ansingen. Dies haben einige ältere englische und französische <lb n="pgo_300.008"/>
Odendichter nicht vermieden. Wenn Thomas die Zeit, Shenstone die <lb n="pgo_300.009"/>
Gesundheit, Akenside den Argwohn, Miß Carter die Weisheit, Collins <lb n="pgo_300.010"/>
die Leidenschaften, Thomas Warton den Selbstmord andichtet: so befinden <lb n="pgo_300.011"/>
wir uns unmittelbar im Gebiete einer nüchternen Reflexion, welche <lb n="pgo_300.012"/>
sich in aller Breite ausgießt, während die Ode nur im Schwung die <lb n="pgo_300.013"/>
leuchtenden Gipfel des Gedankens berühren darf. Hierin ist <hi rendition="#g">Klopstock</hi> <lb n="pgo_300.014"/>
nachahmenswerthes Vorbild, während <hi rendition="#g">Hölty</hi> sanftere Ergüsse edler <lb n="pgo_300.015"/>
Naturbegeisterung in anmuthige Rhythmen aushaucht. Gerade für die <lb n="pgo_300.016"/>
eigentliche &#x201E;Ode&#x201C; eignen sich die antiken Strophen, besonders in der <lb n="pgo_300.017"/>
gereimten Form, während die Hymne und Dithyrambe in ihrem freieren, <lb n="pgo_300.018"/>
stürmischen Takt die Weise Pindarischer Strophen oder der kühnsten <lb n="pgo_300.019"/>
rhythmischen Wechsel verlangen.</p>
              </div>
              <div n="5">
                <lb n="pgo_300.020"/>
                <head> <hi rendition="#c">3. Die Dithyrambe.</hi> </head>
                <p><lb n="pgo_300.021"/>
Diese aus der Hymne hervorgegangene, aber ihr entgegengesetzte <lb n="pgo_300.022"/>
Dichtung, welche die ganze Fülle, den ganzen Taumel irdischer Beseligung <lb n="pgo_300.023"/>
athmet, darf man nicht für veraltet erklären, wenn auch schon Herder in <lb n="pgo_300.024"/>
der zweiten Sammlung seiner Fragmente behauptet, daß sie für unser <lb n="pgo_300.025"/>
Zeitalter nicht mehr passe, sondern für eine wenig gebildete sinnliche Zeit, <lb n="pgo_300.026"/>
in welcher sie auch ihren Ursprung genommen. Wenn <hi rendition="#g">Herder</hi> dabei an <lb n="pgo_300.027"/>
jene sclavischen Nachahmungen der Alten denkt, wie sie <hi rendition="#g">Willamov</hi> seiner <lb n="pgo_300.028"/>
Zeit versucht oder die Jtaliener <hi rendition="#g">Redi, Baruffaldi, Chiabrera, <lb n="pgo_300.029"/>
Magalotti</hi> u. A., welche mit antiker Bacchusmaske einen durcheinander <lb n="pgo_300.030"/>
wogenden Verskarneval dichteten, so ist ihm nur Recht zu geben; denn <lb n="pgo_300.031"/>
der indische Bacchuszug, das monotone Evoëgeschrei, das Schwenken <lb n="pgo_300.032"/>
eines gedankenlosen Thyrsus, Mänaden- und Satyrchöre mit einem <lb n="pgo_300.033"/>
gelehrten Tumult in Noten erläuterter Jnstrumente paßt durchaus nicht <lb n="pgo_300.034"/>
mehr in unsere Zeit. Anders bei <hi rendition="#g">Pindar</hi> und <hi rendition="#g">Bacchylides,</hi> seinem
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[300/0322] pgo_300.001 welche den ewigen Gehalt unserer Zeit für alle Zeiten auszusprechen pgo_300.002 bestrebt sind. pgo_300.003 Auch für einen den Tiefen der Natur und den Räthseln des menschlichen pgo_300.004 Lebens zugewendeten Gedankenflug ist die Ode eine treffliche Form, pgo_300.005 nur muß sie nicht einer behaglich sinnenden Reflexion oder gar einem pgo_300.006 lehrhaften Tone verfallen, nicht abstrakte Begriffe oder allegorische Gestalten pgo_300.007 ansingen. Dies haben einige ältere englische und französische pgo_300.008 Odendichter nicht vermieden. Wenn Thomas die Zeit, Shenstone die pgo_300.009 Gesundheit, Akenside den Argwohn, Miß Carter die Weisheit, Collins pgo_300.010 die Leidenschaften, Thomas Warton den Selbstmord andichtet: so befinden pgo_300.011 wir uns unmittelbar im Gebiete einer nüchternen Reflexion, welche pgo_300.012 sich in aller Breite ausgießt, während die Ode nur im Schwung die pgo_300.013 leuchtenden Gipfel des Gedankens berühren darf. Hierin ist Klopstock pgo_300.014 nachahmenswerthes Vorbild, während Hölty sanftere Ergüsse edler pgo_300.015 Naturbegeisterung in anmuthige Rhythmen aushaucht. Gerade für die pgo_300.016 eigentliche „Ode“ eignen sich die antiken Strophen, besonders in der pgo_300.017 gereimten Form, während die Hymne und Dithyrambe in ihrem freieren, pgo_300.018 stürmischen Takt die Weise Pindarischer Strophen oder der kühnsten pgo_300.019 rhythmischen Wechsel verlangen. pgo_300.020 3. Die Dithyrambe. pgo_300.021 Diese aus der Hymne hervorgegangene, aber ihr entgegengesetzte pgo_300.022 Dichtung, welche die ganze Fülle, den ganzen Taumel irdischer Beseligung pgo_300.023 athmet, darf man nicht für veraltet erklären, wenn auch schon Herder in pgo_300.024 der zweiten Sammlung seiner Fragmente behauptet, daß sie für unser pgo_300.025 Zeitalter nicht mehr passe, sondern für eine wenig gebildete sinnliche Zeit, pgo_300.026 in welcher sie auch ihren Ursprung genommen. Wenn Herder dabei an pgo_300.027 jene sclavischen Nachahmungen der Alten denkt, wie sie Willamov seiner pgo_300.028 Zeit versucht oder die Jtaliener Redi, Baruffaldi, Chiabrera, pgo_300.029 Magalotti u. A., welche mit antiker Bacchusmaske einen durcheinander pgo_300.030 wogenden Verskarneval dichteten, so ist ihm nur Recht zu geben; denn pgo_300.031 der indische Bacchuszug, das monotone Evoëgeschrei, das Schwenken pgo_300.032 eines gedankenlosen Thyrsus, Mänaden- und Satyrchöre mit einem pgo_300.033 gelehrten Tumult in Noten erläuterter Jnstrumente paßt durchaus nicht pgo_300.034 mehr in unsere Zeit. Anders bei Pindar und Bacchylides, seinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/322
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/322>, abgerufen am 13.05.2024.