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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Welt untergegangener Sagen hat einen literarischen und wissenschaftlichen pgo_288.002
Reiz; aber dieser Reiz ist unfruchtbar für die echte Volkspoesie der pgo_288.003
Gegenwart. Solch' eine Haudegen-Ballade, wie: "des Deutschritters pgo_288.004
Ave" von Geibel kann in unserer Zeit keine Sympathieen erwecken. pgo_288.005
Dichter, wie Burns und Thomas Moore, schöpfen zwar aus dem pgo_288.006
schottischen und irischen Volksleben; aber sie wissen doch der Sage eine pgo_288.007
echt menschliche und dauernde Bedeutung zu geben und sie ganz in die pgo_288.008
Empfindung des Herzens aufzulösen. Jndeß finden wir bei Letzterem pgo_288.009
schon die Ansätze zu einer modernen Ballade! Beranger in einzelnen pgo_288.010
episch gefärbten Chansons, Heine in seinen meisterhaften "Grenadieren," pgo_288.011
Zedlitz in der "nächtigen Heerschau" haben mit Glück die Bahn betreten, pgo_288.012
die zu einer Verjüngung der Ballade führt. Das jüngste Zeitalter pgo_288.013
ist reich genug an großartigen Reminiscenzen, welche ein begabter Dichter pgo_288.014
in stimmungsvollen und sangbaren Balladen verwerthen kann -- und so pgo_288.015
wenig ein französischer Grenadier der großen Armee unsere nationalen pgo_288.016
Sympathieen besitzt, so versetzt er uns doch eher in eine dichterisch sympathetische pgo_288.017
Stimmung, als ein alter Deutschritter, der einem Litthauer- pgo_288.018
Häuptling den Schädel spaltet. Jene düstern schottischen Balladendichter pgo_288.019
haben aus der Stimmung ihrer Zeit herausgedichtet -- dichten wir so pgo_288.020
aus der unsrigen heraus! Haben wir den Muth, alle akademischen Exercitien pgo_288.021
zu vermeiden, ob sie in Nachdichtungen der Römer und Griechen pgo_288.022
oder der eigenen durch die germanistischen Studien galvanisirten Volkspoesie pgo_288.023
bestehen. Nur aus der Stimmung unseres Jahrhunderts heraus pgo_288.024
wird die echte Ballade gesungen, mag sie, wie oft bei Heine, das pgo_288.025
eigene Erlebniß liederartig gestalten oder irgend eine Begebenheit des pgo_288.026
socialen und politischen Lebens, aus der Fülle des eigenen Herzens wiedergeboren, pgo_288.027
in frischem Liederquell hervorsprudeln lassen!

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3. Das erhabene und komische Lied.

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Obgleich sich das Lied meistens in der reinen Mitte des einfach pgo_288.030
Schönen bewegt, so kann es sich doch auch den erhabenen und komischen pgo_288.031
Stoff aneignen. Das religiöse Lied unterscheidet sich von der Hymne pgo_288.032
dadurch, daß es den erhabenen Gegenstand nicht in seiner Erhabenheit pgo_288.033
feiert, sondern die hingebende, andachtsvolle Stimmung des eigenen pgo_288.034
Gemüthes, das Gefühl der Getragenheit durch eine höhere Macht, in

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/310>, abgerufen am 13.05.2024.