Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_278.001 Jhr verblühet, süße Rosen, pgo_278.011 Meine Liebe trug euch nicht! pgo_278.012 Es leuchtet meine Liebe pgo_278.014 Jn ihrer dunkeln Pracht. pgo_278.015 Da unten braust der wilde Bach, pgo_278.019 Führt reichen, frischen Tod -- pgo_278.020 Nie soll weiter sich in's Land pgo_278.024 Lieb' von Liebe wagen, pgo_278.025 Als sich blühend in der Hand pgo_278.026 Läßt die Rose tragen, pgo_278.027 Oder als die Nachtigall pgo_278.028 Halmen bringt zum Neste, pgo_278.029 Oder als ihr süßer Schall pgo_278.030 Wandert mit dem Weste. pgo_278.031 Wie dunkle Träume stehen pgo_278.035
Die Häuser in langer Reih! pgo_278.001 Jhr verblühet, süße Rosen, pgo_278.011 Meine Liebe trug euch nicht! pgo_278.012 Es leuchtet meine Liebe pgo_278.014 Jn ihrer dunkeln Pracht. pgo_278.015 Da unten braust der wilde Bach, pgo_278.019 Führt reichen, frischen Tod — pgo_278.020 Nie soll weiter sich in's Land pgo_278.024 Lieb' von Liebe wagen, pgo_278.025 Als sich blühend in der Hand pgo_278.026 Läßt die Rose tragen, pgo_278.027 Oder als die Nachtigall pgo_278.028 Halmen bringt zum Neste, pgo_278.029 Oder als ihr süßer Schall pgo_278.030 Wandert mit dem Weste. pgo_278.031 Wie dunkle Träume stehen pgo_278.035
Die Häuser in langer Reih! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0300" n="278"/><lb n="pgo_278.001"/> Naturbild: so muß, wie in obigem Beispiel Heine's, die Schilderung <lb n="pgo_278.002"/> selbst gleichsam untergetaucht sein in den Strom der Empfindung. Es <lb n="pgo_278.003"/> frägt sich nur, durch welche Stylmittel sich die lyrische Prägnanz am <lb n="pgo_278.004"/> besten erreichen läßt? Hier bietet sich zunächst das dichterische „Wort“ dar, <lb n="pgo_278.005"/> das sinnig gewählte oder vielmehr getroffene Adjektivum und Verbum. <lb n="pgo_278.006"/> Der eigenthümliche „Duft“ der Stimmung läßt sich durch das einfache <lb n="pgo_278.007"/> „Wort“ mit der größten Magie über ein Gedicht hinzaubern. Goethe, <lb n="pgo_278.008"/> Heine und Lenau sind hierin Meister! Wie prägnant ist das Verbum <lb n="pgo_278.009"/> <hi rendition="#g">tragen</hi> von Goethe in dem bekannten Liede angewandt:</p> <lb n="pgo_278.010"/> <lg> <l>Jhr verblühet, süße Rosen,</l> <lb n="pgo_278.011"/> <l>Meine Liebe <hi rendition="#g">trug</hi> euch nicht!</l> </lg> <p><lb n="pgo_278.012"/> das Adjektivum <hi rendition="#g">dunkel</hi> bei Heine:</p> <lb n="pgo_278.013"/> <lg> <l>Es leuchtet meine Liebe</l> <lb n="pgo_278.014"/> <l>Jn ihrer <hi rendition="#g">dunkeln</hi> Pracht.</l> </lg> <p><lb n="pgo_278.015"/> Lenau singt von den „rohen Winden,“ die nicht singen, vom „<hi rendition="#g">trennungsschaurigen</hi> <lb n="pgo_278.016"/> Herbst,“ von der „<hi rendition="#g">duftverlornen</hi> Grenze“ der <lb n="pgo_278.017"/> Berge, —</p> <lb n="pgo_278.018"/> <lg> <l>Da unten braust der wilde Bach,</l> <lb n="pgo_278.019"/> <l>Führt <hi rendition="#g">reichen, frischen</hi> Tod —</l> </lg> <p><lb n="pgo_278.020"/> vom „<hi rendition="#g">schnellverzitternden</hi>“ und vom „<hi rendition="#g">vergänglichen</hi>“ Bilde <lb n="pgo_278.021"/> der Blitze im Teich. Ebenso bezeichnend, wie diese stimmungsvollen <lb n="pgo_278.022"/> Adjektiva, sind <hi rendition="#g">Lenau's</hi> Verba:</p> <lb n="pgo_278.023"/> <lg> <l>Nie soll weiter sich in's Land</l> <lb n="pgo_278.024"/> <l>Lieb' von Liebe <hi rendition="#g">wagen,</hi></l> <lb n="pgo_278.025"/> <l>Als sich blühend in der Hand</l> <lb n="pgo_278.026"/> <l>Läßt die Rose tragen, </l> </lg> <lg> <lb n="pgo_278.027"/> <l>Oder als die Nachtigall</l> <lb n="pgo_278.028"/> <l>Halmen bringt zum Neste,</l> <lb n="pgo_278.029"/> <l>Oder als ihr süßer Schall</l> <lb n="pgo_278.030"/> <l><hi rendition="#g">Wandert</hi> mit dem Weste.</l> </lg> <p><lb n="pgo_278.031"/> Mit Metaphern darf das <hi rendition="#g">Lied</hi> keinesfalls überladen sein — sonst <lb n="pgo_278.032"/> verliert die Empfindung ihre Unmittelbarkeit. Die Metapher muß kurz, <lb n="pgo_278.033"/> schlagend und <hi rendition="#g">stimmungsvoll</hi> sein, wie bei <hi rendition="#g">Heine:</hi></p> <lb n="pgo_278.034"/> <lg> <l>Wie <hi rendition="#g">dunkle Träume</hi> stehen</l> <lb n="pgo_278.035"/> <l>Die <hi rendition="#g">Häuser</hi> in langer Reih!</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [278/0300]
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Naturbild: so muß, wie in obigem Beispiel Heine's, die Schilderung pgo_278.002
selbst gleichsam untergetaucht sein in den Strom der Empfindung. Es pgo_278.003
frägt sich nur, durch welche Stylmittel sich die lyrische Prägnanz am pgo_278.004
besten erreichen läßt? Hier bietet sich zunächst das dichterische „Wort“ dar, pgo_278.005
das sinnig gewählte oder vielmehr getroffene Adjektivum und Verbum. pgo_278.006
Der eigenthümliche „Duft“ der Stimmung läßt sich durch das einfache pgo_278.007
„Wort“ mit der größten Magie über ein Gedicht hinzaubern. Goethe, pgo_278.008
Heine und Lenau sind hierin Meister! Wie prägnant ist das Verbum pgo_278.009
tragen von Goethe in dem bekannten Liede angewandt:
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Jhr verblühet, süße Rosen, pgo_278.011
Meine Liebe trug euch nicht!
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das Adjektivum dunkel bei Heine:
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Es leuchtet meine Liebe pgo_278.014
Jn ihrer dunkeln Pracht.
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Lenau singt von den „rohen Winden,“ die nicht singen, vom „trennungsschaurigen pgo_278.016
Herbst,“ von der „duftverlornen Grenze“ der pgo_278.017
Berge, —
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Da unten braust der wilde Bach, pgo_278.019
Führt reichen, frischen Tod —
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vom „schnellverzitternden“ und vom „vergänglichen“ Bilde pgo_278.021
der Blitze im Teich. Ebenso bezeichnend, wie diese stimmungsvollen pgo_278.022
Adjektiva, sind Lenau's Verba:
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Nie soll weiter sich in's Land pgo_278.024
Lieb' von Liebe wagen, pgo_278.025
Als sich blühend in der Hand pgo_278.026
Läßt die Rose tragen,
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Oder als die Nachtigall pgo_278.028
Halmen bringt zum Neste, pgo_278.029
Oder als ihr süßer Schall pgo_278.030
Wandert mit dem Weste.
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Mit Metaphern darf das Lied keinesfalls überladen sein — sonst pgo_278.032
verliert die Empfindung ihre Unmittelbarkeit. Die Metapher muß kurz, pgo_278.033
schlagend und stimmungsvoll sein, wie bei Heine:
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Wie dunkle Träume stehen pgo_278.035
Die Häuser in langer Reih!
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