Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_273.001 pgo_273.007 Füllest wieder Busch und Thal pgo_273.026 Still mit Nebelglanz, pgo_273.027 Lösest endlich auch einmal pgo_273.028 Meine Seele ganz. -- pgo_273.029 pgo_273.031 *) pgo_273.033 Aesthetik Bd. 3 p. 1352. **) pgo_273.034
Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141. pgo_273.001 pgo_273.007 Füllest wieder Busch und Thal pgo_273.026 Still mit Nebelglanz, pgo_273.027 Lösest endlich auch einmal pgo_273.028 Meine Seele ganz. — pgo_273.029 pgo_273.031 *) pgo_273.033 Aesthetik Bd. 3 p. 1352. **) pgo_273.034
Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0295" n="273"/><lb n="pgo_273.001"/> aber ihn deshalb mit Vischer<note xml:id="PGO_273_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_273.033"/> Aesthetik Bd. 3 p. 1352.</note> überhaupt einen größeren Lyriker zu <lb n="pgo_273.002"/> nennen, das zeugt doch von einer bedenklichen Einseitigkeit, deren Konsequenz <lb n="pgo_273.003"/> es wäre, <hi rendition="#g">Anakreon</hi> als „Lyriker“ über <hi rendition="#g">Pindar, Catull</hi> über <lb n="pgo_273.004"/> <hi rendition="#g">Horaz</hi> und <hi rendition="#g">Ovid,</hi> und <hi rendition="#g">Burns</hi> über <hi rendition="#g">Byron</hi> zu setzen. Wie viel <lb n="pgo_273.005"/> richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem <hi rendition="#g">Liede</hi> ohne Ueberschätzung <lb n="pgo_273.006"/> seine gebührende Stelle einräumt<note xml:id="PGO_273_2" place="foot" n="**)"><lb n="pgo_273.034"/> Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141.</note>.</p> <p><lb n="pgo_273.007"/> Der Grundton der Stimmung läßt im <hi rendition="#g">Liede</hi> keine kühnen Ausweichungen <lb n="pgo_273.008"/> zu; er verlangt einen harmonischen, vollen Akkord. Die <lb n="pgo_273.009"/> Empfindung wird mit aller Wärme und Jnnigkeit festgehalten und klar, <lb n="pgo_273.010"/> aber ohne Schärfe ausgesprochen. Wir wollen im <hi rendition="#g">Liede</hi> auf den Grund <lb n="pgo_273.011"/> der Seele sehn; aber ein durchsichtiger Schleier muß noch darüber schweben. <lb n="pgo_273.012"/> Das erst giebt dem Liede seinen eigenthümlichen Duft, seinen <lb n="pgo_273.013"/> träumerischen Reiz. Das Ahnungsvolle, halb Ausgesprochene gehört zu <lb n="pgo_273.014"/> seinem Wesen. Jede scharfe Bestimmtheit, alles Eckige und Kantige der <lb n="pgo_273.015"/> realen Welt würde diesen duftigen Schleier zerreißen. Wohl kann ein <lb n="pgo_273.016"/> äußerer Gegenstand die Empfindung anregen; aber diese Anregung entbindet <lb n="pgo_273.017"/> nur ihre eigenste Kraft; das Objekt verschwindet in den Schwingungen <lb n="pgo_273.018"/> des Subjekts. Die Bilder im Liede gleichen den Chladnischen <lb n="pgo_273.019"/> Klangfiguren, sie haben keinen eigenen Werth, sie verkünden nur die Macht <lb n="pgo_273.020"/> der Töne und ihre Verschiedenheit, die Vibrationen der Seele. Die <lb n="pgo_273.021"/> Empfindung, die von Bild zu Bild schweifte, würde sich zersplittern — <lb n="pgo_273.022"/> das Lied bedarf einer koncentrirten Einheit. Die Kunst des Liederdichters <lb n="pgo_273.023"/> besteht darin, uns mit dem geringsten Aufwande künstlerischer Mittel <lb n="pgo_273.024"/> <hi rendition="#g">gleich</hi> in seine <hi rendition="#g">Stimmung</hi> zu versetzen.</p> <lb n="pgo_273.025"/> <lg> <l>Füllest wieder Busch und Thal</l> <lb n="pgo_273.026"/> <l>Still mit Nebelglanz,</l> <lb n="pgo_273.027"/> <l>Lösest endlich auch einmal</l> <lb n="pgo_273.028"/> <l>Meine Seele ganz. —</l> </lg> <p><lb n="pgo_273.029"/> Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar <lb n="pgo_273.030"/> gefangen nehmen.</p> <p><lb n="pgo_273.031"/> Der Jnhalt des <hi rendition="#g">Liedes</hi> ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr <lb n="pgo_273.032"/> schön hat <hi rendition="#g">Hegel</hi> die Liederdichtung eine sich stets erneuende „Blumenflur“ </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [273/0295]
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aber ihn deshalb mit Vischer *) überhaupt einen größeren Lyriker zu pgo_273.002
nennen, das zeugt doch von einer bedenklichen Einseitigkeit, deren Konsequenz pgo_273.003
es wäre, Anakreon als „Lyriker“ über Pindar, Catull über pgo_273.004
Horaz und Ovid, und Burns über Byron zu setzen. Wie viel pgo_273.005
richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem Liede ohne Ueberschätzung pgo_273.006
seine gebührende Stelle einräumt **).
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Der Grundton der Stimmung läßt im Liede keine kühnen Ausweichungen pgo_273.008
zu; er verlangt einen harmonischen, vollen Akkord. Die pgo_273.009
Empfindung wird mit aller Wärme und Jnnigkeit festgehalten und klar, pgo_273.010
aber ohne Schärfe ausgesprochen. Wir wollen im Liede auf den Grund pgo_273.011
der Seele sehn; aber ein durchsichtiger Schleier muß noch darüber schweben. pgo_273.012
Das erst giebt dem Liede seinen eigenthümlichen Duft, seinen pgo_273.013
träumerischen Reiz. Das Ahnungsvolle, halb Ausgesprochene gehört zu pgo_273.014
seinem Wesen. Jede scharfe Bestimmtheit, alles Eckige und Kantige der pgo_273.015
realen Welt würde diesen duftigen Schleier zerreißen. Wohl kann ein pgo_273.016
äußerer Gegenstand die Empfindung anregen; aber diese Anregung entbindet pgo_273.017
nur ihre eigenste Kraft; das Objekt verschwindet in den Schwingungen pgo_273.018
des Subjekts. Die Bilder im Liede gleichen den Chladnischen pgo_273.019
Klangfiguren, sie haben keinen eigenen Werth, sie verkünden nur die Macht pgo_273.020
der Töne und ihre Verschiedenheit, die Vibrationen der Seele. Die pgo_273.021
Empfindung, die von Bild zu Bild schweifte, würde sich zersplittern — pgo_273.022
das Lied bedarf einer koncentrirten Einheit. Die Kunst des Liederdichters pgo_273.023
besteht darin, uns mit dem geringsten Aufwande künstlerischer Mittel pgo_273.024
gleich in seine Stimmung zu versetzen.
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Füllest wieder Busch und Thal pgo_273.026
Still mit Nebelglanz, pgo_273.027
Lösest endlich auch einmal pgo_273.028
Meine Seele ganz. —
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Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar pgo_273.030
gefangen nehmen.
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Der Jnhalt des Liedes ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr pgo_273.032
schön hat Hegel die Liederdichtung eine sich stets erneuende „Blumenflur“
*) pgo_273.033
Aesthetik Bd. 3 p. 1352.
**) pgo_273.034
Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141.
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