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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Schon hieraus geht hervor, wie müßig viele mit dem größten Aufwande pgo_268.002
von Gelehrsamkeit geführte Untersuchungen über diesen oder jenen Lebensumstand, pgo_268.003
diese oder jene Geliebte eines Lyrikers, die Sulpicia des Tibull pgo_268.004
und die Lili Goethe's sind. Wie bei dem Maler, ist es auch bei dem pgo_268.005
Dichter gleichgültig, woher er seine Studienköpfe nimmt! Das Erlebniß pgo_268.006
gewinnt unter seinen Händen eine andere Gestalt; es handelt sich nicht pgo_268.007
um die äußere, nur um die innere Treue. Nicht der Gegenstand, pgo_268.008
sondern wie er mir in dieser Stimmung erschien -- das ist in der pgo_268.009
Lyrik das Wesentliche. Goethe sagt irgendwo, jedes echte Gedicht sei ein pgo_268.010
Gelegenheits gedicht; das kann nur heißen, es ist immer aus einer pgo_268.011
bestimmten Situation oder Stimmung hervorgegangen; aus einem pgo_268.012
äußern oder innern Anlaß. Das Erlebniß kann aber längst vergangen pgo_268.013
sein und nur zufällig in der Seele erweckt werden. Wie verhält es sich pgo_268.014
aber mit dem Gelegenheitsgedichte in der engeren Bedeutung des Wortes? pgo_268.015
Hier hilft uns ein anderer Spruch Goethe's: "Seid ihr Poeten, so pgo_268.016
kommandirt die Poesie!" Es gehört ein außerordentlich reiches und vielseitiges pgo_268.017
Gemüth dazu, um jeden ganz von außen gegebenen Stoff in pgo_268.018
einen Aether der Stimmung zu erheben, wo er dichterische Flügel gewinnt. pgo_268.019
Jmmer wird es dabei auf die Verwandtschaft des Stoffes mit der pgo_268.020
Gemüthslage und Weltanschauung des Dichters ankommen. Man führt pgo_268.021
oft Pindar's Epinikien als großartige Gelegenheitsgedichte an -- doch pgo_268.022
hatte dieser Stoff auch seine nationale Seite, welche in der Stimmung pgo_268.023
eines hellenischen Dichters stets eine entgegenkommende Begeisterung pgo_268.024
fand. Jedenfalls bleibt Pindar's Verfahren, der den einzelnen Fall und pgo_268.025
die Zufälligkeit seiner Daten alsbald in den großartigen Fugen seiner pgo_268.026
gedankenreichen Hymnik verschwinden ließ, für alle Gelegenheitspoesie pgo_268.027
mustergültig. Daß indeß auch großen Geistern das Kommandowort pgo_268.028
über die Poesie nicht immer zu Gebote steht, beweist wohl Goethe's hoffestliche pgo_268.029
Gelegenheitslyrik, deren strohernes Allegorisiren meistens unerträglich pgo_268.030
ist. Die äußerliche Nöthigung oder Bestellung wird der Poesie pgo_268.031
immer nur eine Anregung von sehr zweifelhaftem Werthe bieten. Jst pgo_268.032
indeß der Lyriker einmal angeregt, so wird er dem Strom der Empfindungen pgo_268.033
mit Begeisterung, doch zugleich mit Besonnenheit folgen. Die pgo_268.034
äußerliche Methode des Schaffens wird nur eine individuelle bleiben. pgo_268.035
Doch scheint uns die Art und Weise des Tibull sehr empfehlenswerth,

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kommandirt die Poesie!“ Es gehört ein außerordentlich reiches und vielseitiges pgo_268.017
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mit Begeisterung, doch zugleich mit Besonnenheit folgen. Die pgo_268.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/290>, abgerufen am 22.11.2024.