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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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einzig und, weil er einzig ist, unerklärbar. Hier beginnt das Jrrationale, pgo_264.002
das sich in keine Formel bringen läßt -- das Geheimniß des pgo_264.003
Genius.

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Da die Lyrik das Austönen der Empfindung ist: so braucht sie die pgo_264.005
ganze Musik der Sprache, ihre Melodie, den Rhythmus und ihre Harmonie, pgo_264.006
den Reim. Trochäische, jambische, daktylische, anapästische pgo_264.007
Versmaaße, von unendlicher Verschiedenheit durch die Zahl der Füße, pgo_264.008
durch die Anordnung längerer und kürzerer Verszeilen stehn ihr zu pgo_264.009
Gebote; sie eignet sich die antiken Strophen, die orientalischen Gaselen pgo_264.010
und Kassiden an. Die Kunst des Lyrikers besteht in der passenden Wahl pgo_264.011
des Metrums -- eine Wahl, die in den meisten Fällen Sache der pgo_264.012
Jnspiration ist. Der Lyriker muß den Geist jedes Metrums kennen -- pgo_264.013
hierin wird das Talent schon vom Jnstinkt geleitet. Es wird keine pgo_264.014
leidenschaftliche steeple-chase auf einem schwerfälligen Alexandriner pgo_264.015
veranstalten oder auf einem adonischen Pony; es wird keinen muntern pgo_264.016
Spazierritt auf einem harttrabigen, feierlichen Trimeter machen; es wird pgo_264.017
keinen heroischen Buccephalus, keine Nibelungenstrophe, in die elegische pgo_264.018
Schwemme reiten! Die deutsche Lyrik gebietet über den größten Reichthum pgo_264.019
an metrischen Formen; aber da ihr trotz dessen die metrische pgo_264.020
Plastik
fehlt, so verlangt sie den Reim als nothwendige Ergänzung. pgo_264.021
Wir stellen diese Behauptung unbedingt hin als eine Einsicht der Neuzeit, pgo_264.022
die sich von den einseitigen klassischen Studien und Traditionen emancipirt pgo_264.023
hat. Als einzige Ausnahme für die Lyrik würden wir das elegische pgo_264.024
Distichon gelten lassen. Alle die kunstvollen Reimformen und Strophenbildungen, pgo_264.025
Sonett, Sestine, Kanzone können in der Lyrik verwerthet pgo_264.026
werden. Die Stanze schwebt in der Mitte zwischen Lyrik und pgo_264.027
Epik; die Terzine hat einen entschieden epischen Charakter.

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Nachdem wir so das Gewebe des lyrischen Kunstwerkes ausgebreitet pgo_264.029
und in Stoff und Form untersucht, wollen wir noch einen Blick pgo_264.030
auf den lyrischen Dichter werfen, dessen Seele es aus ihren eigensten pgo_264.031
Fäden spinnt. Die Lyrik ist die Seele aller Poesie, das Auge der Dichtung; pgo_264.032
denn die Begeisterung, die in der epischen und dramatischen Poesie pgo_264.033
durch mancherlei Kanäle geleitet wird, quillt in der Lyrik frisch und pgo_264.034
unmittelbar hervor. Ein epischer oder dramatischer Dichter ohne eine pgo_264.035
lyrische Ader wird stets an einer bedenklichen Nüchternheit leiden.

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Epik; die Terzine hat einen entschieden epischen Charakter.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/286>, abgerufen am 22.11.2024.