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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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lyrischen Schaffens, wie überhaupt den Quell der lyrischen Dichtung. pgo_257.002
Ganz entgegengesetzt dieser willkürlichen Verknüpfung der Vorstellungen pgo_257.003
ist der logische Gedankengang, die Methode des entwickelnden Denkens, pgo_257.004
das aus bestimmten Prämissen mit Nothwendigkeit bestimmte Schlüsse pgo_257.005
zieht. Auf dem künstlerischen Gebiet offenbart sich diese logische Präcision pgo_257.006
als Besonnenheit, welche mit Bewußtsein auf innere Folgerichtigkeit pgo_257.007
und harmonische Gestaltung des Ganzen hinarbeitet. Ein lyrisches pgo_257.008
Gedicht, welches die logische Anordnung nach Art einer homiletischen pgo_257.009
Disposition offen zur Schau trüge, würde durch seine Nüchternheit aus pgo_257.010
aller Poesie herausfallen, während auf der andern Seite ein Gedicht, pgo_257.011
welches das willkürliche Spiel der Vorstellungen in's Unbegrenzte ausdehnt, pgo_257.012
zuletzt auch von der Grundstimmung abirren und in's Phantastische pgo_257.013
und Bodenlose verfallen müßte. Denn für die Träumereien der pgo_257.014
unkünstlerischen Phantasie giebt es keinen Anfang und kein Ende, keine pgo_257.015
Grenze, wo die eine Stimmung in die andere umschlägt! Hier beherrschen pgo_257.016
die Vorstellungen die Seele; in der Lyrik soll die Seele die Vorstellungen pgo_257.017
beherrschen! Das Geheimniß der lyrischen Komposition pgo_257.018
besteht nun eben darin, jenes willkürliche Spiel der träumenden Seele pgo_257.019
im reichsten Wechsel der Vorstellungen nachzuahmen, aber so, daß in pgo_257.020
allen diesen kühnen und täuschenden Verschlingungen doch eine innere, mit pgo_257.021
Bewußtsein angestrebte Harmonie waltet. Der elektrische Funke der pgo_257.022
Empfindung, der an der Kette der Vorstellungen hinläuft, muß am pgo_257.023
Schlusse, Allen sichtbar, wieder aus ihr herausspringen. Je labyrinthischer pgo_257.024
die Komposition, je mehr wir den Faden zu verlieren glauben: desto pgo_257.025
größer unsere Freude ihn wiederzufinden, desto größer die Kunst des Dichters, pgo_257.026
die sich freilich nur in den höheren lyrischen Gattungen bewähren pgo_257.027
kann. Von den Dichtern des Alterthums ist Pindar wegen der Kühnheit pgo_257.028
seiner Komposition gefeiert. Er verschlingt die Gedankenreihen so pgo_257.029
künstlich, daß erst am Schlusse in überraschender Weise ihre innere Einheit pgo_257.030
und Harmonie hervortritt. So feiert er in seiner ersten pythischen Siegeshymne pgo_257.031
den Hieron, den Gründer und Bürger der Stadt Aetna. Er pgo_257.032
beginnt mit einem Preise der Musik, welche die Götter im Olymp erfreue pgo_257.033
und beselige und nur die Qual des unter dem Aetna gefesselten Giganten pgo_257.034
Typhon vermehre. Dann springt er plötzlich zur neugegründeten Stadt pgo_257.035
Aetna über, die Hieron im Kriege beschützt, und der er eine weise

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/279>, abgerufen am 22.11.2024.