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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Alkäos so gut wie Walther von der Vogelweide, deutsche Volkslieder so pgo_243.002
gut wie Petrarkische Kanzonen innerhalb einer Strophe, die dann regelmäßig pgo_243.003
wiederkehrt. Die gleichen Theile heißen in Deutschland Stollen, pgo_243.004
der ungleiche Abgesang." Ein solcher großartiger, dreigliedriger strophischer pgo_243.005
Organismus mit reimendem Versabschluß erscheint uns für die pgo_243.006
höchste Gattung der Lyrik im Deutschen als die angemessenste Form, die pgo_243.007
bis jetzt noch nicht versucht ist, die aber unfehlbar wird versucht werden, pgo_243.008
wenn der Sinn für die höhere Lyrik wieder lebendiger zum Durchbruch pgo_243.009
kommt.

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3. Brientalische Versarten.
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a. Die Gaselen.

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Die Gaselen (Lobgedichte) sind eine persische Dichtform, welche pgo_243.013
Rückert und Platen in die deutsche Literatur eingeführt haben. Jhre pgo_243.014
charakteristische Eigenthümlichkeit besteht in der Wiederkehr desselben pgo_243.015
Endreimes, der in zwei ersten auf einander folgenden Zeilen sich ankündigt, pgo_243.016
dessen spätere Wiederholungen aber durch eine reimlose Zeile zur pgo_243.017
Vermeidung der Monotonie unterbrochen werden. Dabei ist es gleichgültig, pgo_243.018
ob das Metrum ein jambisches, daktylisches und trochäisches und pgo_243.019
wie groß die Zahl der Füße ist -- nur muß derselbe Rhythmus streng pgo_243.020
durch das Ganze durchgeführt werden. Außer dem Reime selbst wird, pgo_243.021
in den entsprechenden Zeilen, noch ein einzelnes oder mehrere einzelne pgo_243.022
Wörter wiederholt, oder vielmehr -- die Gaselen lieben es, einen Kretikus pgo_243.023
zu reimen:

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Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde Nichts, pgo_243.025
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde Nichts! pgo_243.026
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt, pgo_243.027
So gäb's Beklagenswertheres auf diesem weiten Runde Nichts.
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Platen.

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Die Form der "Gasele" hat etwas Kindliches und Unreifes; sie eignet pgo_243.030
sich nur als Band für an einander gereihte Spruchperlen, für Parallelismen pgo_243.031
des Gedankens und des Bildes. Bei größeren "Gaselen" wirkt pgo_243.032
der immer wiederkehrende Reim ermüdend und hält die Seele in dem pgo_243.033
gleichen Gedankenbann. Eine Anwendung der "Gaselen" für andere, pgo_243.034
als kleine sententiöse Gedichte, muß in der deutschen Poesie als unangemessen pgo_243.035
erscheinen.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/265>, abgerufen am 23.11.2024.