Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_191.001
e. Die Trivialität, wenn ein Bild durch die Ueberlieferung und pgo_191.002
den häufigen Gebrauch stereotyp geworden. Die Sterne und Blumen, pgo_191.003
die Rosen und Lilien, die Pfeile der Liebe, das Rad der Zeit -- wer kennt pgo_191.004
nicht diesen reichen Hausschatz bildlicher Wendungen, der sich von Tag pgo_191.005
zu Tag vermehrt und mit welchem die Phantasie der geistig Armen pgo_191.006
wuchert? Freilich muß man sogleich hinzufügen, daß auch große und pgo_191.007
phantasiereiche Dichter sich dieser oft gebrauchten Bilder bedienen, aber pgo_191.008
ihnen durch die Kraft ihrer Originalität einen neuen Reiz verleihn. pgo_191.009
Dasselbe Bild wird bei Shakespeare, Schiller und Goethe eine pgo_191.010
durchaus verschiedene Physiognomie zur Schau tragen, welche, abgesehn pgo_191.011
von der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius, durch den Hauch pgo_191.012
der Stimmung, der darüber ausgegossen, durch die Eigenthümlichkeit pgo_191.013
der bestimmten Situation und des bestimmten Charakters hervorgerufen pgo_191.014
wird. Dieser über dem Ganzen schwebende Duft des Talentes entzieht pgo_191.015
sich jeder näheren Analyse; doch würde eine Zergliederung ergeben, pgo_191.016
daß die Neuheit des scheinbar abgenützten Bildes durch die Zuthat pgo_191.017
charakteristischer Nebenumstände, durch weitere allegorische Ausführung, pgo_191.018
durch bildlichen Gegensatz und durch seine Verkettung mit anderen Bildern pgo_191.019
erzeugt wird.

pgo_191.020
2) Nachdem wir das einzelne Bild an und für sich betrachtet, wollen pgo_191.021
wir es in seiner Zusammenstellung mit andern und in seiner Beziehung pgo_191.022
zum eigentlichen Ausdruck in's Auge fassen. Hier stoßen wir auf die pgo_191.023
Fehler, welche man Katachresen zu nennen pflegt, deren Theorie indeß pgo_191.024
einer Revision bedarf und zwar einer gründlicheren, als sie die Grenzen pgo_191.025
unseres Werkes gestatten.

pgo_191.026
Die eigentliche Häufung der Bilder findet Statt, wenn mehrere pgo_191.027
Bilder denselben Gedanken ausdrücken. Hierbei kann es nicht darauf pgo_191.028
ankommen, die Prägnanz des Ausdruckes zu erhöhen, sondern entweder pgo_191.029
wiegt die Freude am luxuriösen Spiel der Phantasie und dem Reichthum pgo_191.030
der Anschauungen und Beziehungen vor, oder die Bilder dienen zum verstärkten pgo_191.031
Ausdruck eines Gefühles, welches von seinem Gegenstande so voll pgo_191.032
ist, daß es sich von demselben nicht losreißen kann, sondern ihn mit immer pgo_191.033
neuen Farben schmückt. Dadurch gewinnt diese Häufung der Bilder pgo_191.034
eine Bedeutung für den charakteristischen Ausdruck im Drama, und in pgo_191.035
der That machen die Dramatiker aller Zeiten, Aeschylos, Calderon

pgo_191.001
e. Die Trivialität, wenn ein Bild durch die Ueberlieferung und pgo_191.002
den häufigen Gebrauch stereotyp geworden. Die Sterne und Blumen, pgo_191.003
die Rosen und Lilien, die Pfeile der Liebe, das Rad der Zeit — wer kennt pgo_191.004
nicht diesen reichen Hausschatz bildlicher Wendungen, der sich von Tag pgo_191.005
zu Tag vermehrt und mit welchem die Phantasie der geistig Armen pgo_191.006
wuchert? Freilich muß man sogleich hinzufügen, daß auch große und pgo_191.007
phantasiereiche Dichter sich dieser oft gebrauchten Bilder bedienen, aber pgo_191.008
ihnen durch die Kraft ihrer Originalität einen neuen Reiz verleihn. pgo_191.009
Dasselbe Bild wird bei Shakespeare, Schiller und Goethe eine pgo_191.010
durchaus verschiedene Physiognomie zur Schau tragen, welche, abgesehn pgo_191.011
von der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius, durch den Hauch pgo_191.012
der Stimmung, der darüber ausgegossen, durch die Eigenthümlichkeit pgo_191.013
der bestimmten Situation und des bestimmten Charakters hervorgerufen pgo_191.014
wird. Dieser über dem Ganzen schwebende Duft des Talentes entzieht pgo_191.015
sich jeder näheren Analyse; doch würde eine Zergliederung ergeben, pgo_191.016
daß die Neuheit des scheinbar abgenützten Bildes durch die Zuthat pgo_191.017
charakteristischer Nebenumstände, durch weitere allegorische Ausführung, pgo_191.018
durch bildlichen Gegensatz und durch seine Verkettung mit anderen Bildern pgo_191.019
erzeugt wird.

pgo_191.020
2) Nachdem wir das einzelne Bild an und für sich betrachtet, wollen pgo_191.021
wir es in seiner Zusammenstellung mit andern und in seiner Beziehung pgo_191.022
zum eigentlichen Ausdruck in's Auge fassen. Hier stoßen wir auf die pgo_191.023
Fehler, welche man Katachresen zu nennen pflegt, deren Theorie indeß pgo_191.024
einer Revision bedarf und zwar einer gründlicheren, als sie die Grenzen pgo_191.025
unseres Werkes gestatten.

pgo_191.026
Die eigentliche Häufung der Bilder findet Statt, wenn mehrere pgo_191.027
Bilder denselben Gedanken ausdrücken. Hierbei kann es nicht darauf pgo_191.028
ankommen, die Prägnanz des Ausdruckes zu erhöhen, sondern entweder pgo_191.029
wiegt die Freude am luxuriösen Spiel der Phantasie und dem Reichthum pgo_191.030
der Anschauungen und Beziehungen vor, oder die Bilder dienen zum verstärkten pgo_191.031
Ausdruck eines Gefühles, welches von seinem Gegenstande so voll pgo_191.032
ist, daß es sich von demselben nicht losreißen kann, sondern ihn mit immer pgo_191.033
neuen Farben schmückt. Dadurch gewinnt diese Häufung der Bilder pgo_191.034
eine Bedeutung für den charakteristischen Ausdruck im Drama, und in pgo_191.035
der That machen die Dramatiker aller Zeiten, Aeschylos, Calderon

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0213" n="191"/>
              <p><lb n="pgo_191.001"/>
e. Die <hi rendition="#g">Trivialität,</hi> wenn ein Bild durch die Ueberlieferung und <lb n="pgo_191.002"/>
den häufigen Gebrauch stereotyp geworden. Die Sterne und Blumen, <lb n="pgo_191.003"/>
die Rosen und Lilien, die Pfeile der Liebe, das Rad der Zeit &#x2014; wer kennt <lb n="pgo_191.004"/>
nicht diesen reichen Hausschatz bildlicher Wendungen, der sich von Tag <lb n="pgo_191.005"/>
zu Tag vermehrt und mit welchem die Phantasie der geistig Armen <lb n="pgo_191.006"/>
wuchert? Freilich muß man sogleich hinzufügen, daß auch große und <lb n="pgo_191.007"/>
phantasiereiche Dichter sich dieser oft gebrauchten Bilder bedienen, aber <lb n="pgo_191.008"/>
ihnen durch die Kraft ihrer Originalität einen neuen Reiz verleihn. <lb n="pgo_191.009"/>
Dasselbe Bild wird bei <hi rendition="#g">Shakespeare, Schiller</hi> und <hi rendition="#g">Goethe</hi> eine <lb n="pgo_191.010"/>
durchaus verschiedene Physiognomie zur Schau tragen, welche, abgesehn <lb n="pgo_191.011"/>
von der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius, durch den Hauch <lb n="pgo_191.012"/>
der Stimmung, der darüber ausgegossen, durch die Eigenthümlichkeit <lb n="pgo_191.013"/>
der bestimmten Situation und des bestimmten Charakters hervorgerufen <lb n="pgo_191.014"/>
wird. Dieser über dem Ganzen schwebende <hi rendition="#g">Duft</hi> des <hi rendition="#g">Talentes</hi> entzieht <lb n="pgo_191.015"/>
sich jeder näheren Analyse; doch würde eine Zergliederung ergeben, <lb n="pgo_191.016"/>
daß die <hi rendition="#g">Neuheit</hi> des scheinbar abgenützten <hi rendition="#g">Bildes</hi> durch die Zuthat <lb n="pgo_191.017"/>
charakteristischer Nebenumstände, durch weitere allegorische Ausführung, <lb n="pgo_191.018"/>
durch bildlichen Gegensatz und durch seine Verkettung mit anderen Bildern <lb n="pgo_191.019"/>
erzeugt wird.</p>
              <p><lb n="pgo_191.020"/>
2) Nachdem wir das einzelne Bild an und für sich betrachtet, wollen <lb n="pgo_191.021"/>
wir es in seiner Zusammenstellung mit andern und in seiner Beziehung <lb n="pgo_191.022"/>
zum eigentlichen Ausdruck in's Auge fassen. Hier stoßen wir auf die <lb n="pgo_191.023"/>
Fehler, welche man <hi rendition="#g">Katachresen</hi> zu nennen pflegt, deren Theorie indeß <lb n="pgo_191.024"/>
einer Revision bedarf und zwar einer gründlicheren, als sie die Grenzen <lb n="pgo_191.025"/>
unseres Werkes gestatten.</p>
              <p><lb n="pgo_191.026"/>
Die eigentliche <hi rendition="#g">Häufung der Bilder</hi> findet Statt, wenn mehrere <lb n="pgo_191.027"/>
Bilder denselben Gedanken ausdrücken. Hierbei kann es nicht darauf <lb n="pgo_191.028"/>
ankommen, die Prägnanz des Ausdruckes zu erhöhen, sondern entweder <lb n="pgo_191.029"/>
wiegt die Freude am luxuriösen Spiel der Phantasie und dem Reichthum <lb n="pgo_191.030"/>
der Anschauungen und Beziehungen vor, oder die Bilder dienen zum verstärkten <lb n="pgo_191.031"/>
Ausdruck eines Gefühles, welches von seinem Gegenstande so voll <lb n="pgo_191.032"/>
ist, daß es sich von demselben nicht losreißen kann, sondern ihn mit immer <lb n="pgo_191.033"/>
neuen Farben schmückt. Dadurch gewinnt diese Häufung der Bilder <lb n="pgo_191.034"/>
eine Bedeutung für den charakteristischen Ausdruck im Drama, und in <lb n="pgo_191.035"/>
der That machen die Dramatiker aller Zeiten, <hi rendition="#g">Aeschylos, Calderon</hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0213] pgo_191.001 e. Die Trivialität, wenn ein Bild durch die Ueberlieferung und pgo_191.002 den häufigen Gebrauch stereotyp geworden. Die Sterne und Blumen, pgo_191.003 die Rosen und Lilien, die Pfeile der Liebe, das Rad der Zeit — wer kennt pgo_191.004 nicht diesen reichen Hausschatz bildlicher Wendungen, der sich von Tag pgo_191.005 zu Tag vermehrt und mit welchem die Phantasie der geistig Armen pgo_191.006 wuchert? Freilich muß man sogleich hinzufügen, daß auch große und pgo_191.007 phantasiereiche Dichter sich dieser oft gebrauchten Bilder bedienen, aber pgo_191.008 ihnen durch die Kraft ihrer Originalität einen neuen Reiz verleihn. pgo_191.009 Dasselbe Bild wird bei Shakespeare, Schiller und Goethe eine pgo_191.010 durchaus verschiedene Physiognomie zur Schau tragen, welche, abgesehn pgo_191.011 von der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius, durch den Hauch pgo_191.012 der Stimmung, der darüber ausgegossen, durch die Eigenthümlichkeit pgo_191.013 der bestimmten Situation und des bestimmten Charakters hervorgerufen pgo_191.014 wird. Dieser über dem Ganzen schwebende Duft des Talentes entzieht pgo_191.015 sich jeder näheren Analyse; doch würde eine Zergliederung ergeben, pgo_191.016 daß die Neuheit des scheinbar abgenützten Bildes durch die Zuthat pgo_191.017 charakteristischer Nebenumstände, durch weitere allegorische Ausführung, pgo_191.018 durch bildlichen Gegensatz und durch seine Verkettung mit anderen Bildern pgo_191.019 erzeugt wird. pgo_191.020 2) Nachdem wir das einzelne Bild an und für sich betrachtet, wollen pgo_191.021 wir es in seiner Zusammenstellung mit andern und in seiner Beziehung pgo_191.022 zum eigentlichen Ausdruck in's Auge fassen. Hier stoßen wir auf die pgo_191.023 Fehler, welche man Katachresen zu nennen pflegt, deren Theorie indeß pgo_191.024 einer Revision bedarf und zwar einer gründlicheren, als sie die Grenzen pgo_191.025 unseres Werkes gestatten. pgo_191.026 Die eigentliche Häufung der Bilder findet Statt, wenn mehrere pgo_191.027 Bilder denselben Gedanken ausdrücken. Hierbei kann es nicht darauf pgo_191.028 ankommen, die Prägnanz des Ausdruckes zu erhöhen, sondern entweder pgo_191.029 wiegt die Freude am luxuriösen Spiel der Phantasie und dem Reichthum pgo_191.030 der Anschauungen und Beziehungen vor, oder die Bilder dienen zum verstärkten pgo_191.031 Ausdruck eines Gefühles, welches von seinem Gegenstande so voll pgo_191.032 ist, daß es sich von demselben nicht losreißen kann, sondern ihn mit immer pgo_191.033 neuen Farben schmückt. Dadurch gewinnt diese Häufung der Bilder pgo_191.034 eine Bedeutung für den charakteristischen Ausdruck im Drama, und in pgo_191.035 der That machen die Dramatiker aller Zeiten, Aeschylos, Calderon

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/213
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/213>, abgerufen am 25.11.2024.