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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Die vierte Art der Metapher setzt ein geistiges Bild für das pgo_162.002
andere. Jndem sie die Sphären des geistigen Lebens vertauscht, eröffnet pgo_162.003
sie freiere Perspektiven und ist daher vorzugsweise geistreich zu nennen. pgo_162.004
Da es ihr indeß an Anschaulichkeit gebricht, so findet sie in der Poesie pgo_162.005
nur selten Anwendung: [Annotation]

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Noch war mein Namen nicht der Welt zur Beute, pgo_162.007
Die selten fühlt und oft so lieblos richtet.
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Platen.

[Annotation] pgo_162.009
Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben, pgo_162.010
Der täglich sie erobern muß.
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Goethe, Faust.

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Jn diesen Beispielen sind Bilder aus der Sphäre des Krieges auf pgo_162.013
andere geistige Kreise übertragen. [Annotation]

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3. Die Personifikation.

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Die Personifikation (Prosopopöia) ist dasjenige Bild, welches pgo_162.016
dem menschlichen Gemüth am nächsten liegt, und dessen sich schon die pgo_162.017
Wilden und Kinder bedienen. Ein Kind, das den Tisch, an dem es sich pgo_162.018
gestoßen, anredet und schlägt, personificirt das todte Meuble, indem es pgo_162.019
dasselbe wie ein lebendes Wesen behandelt. Durch die Personifikation pgo_162.020
legen wir also abstrakten Begriffen oder leblosen Dingen und Naturerscheinungen pgo_162.021
Eigenschaften, Thätigkeit und Sprache bei, wie sie nur der pgo_162.022
bestimmten menschlichen Jndividualität zukommen. Von diesem Bilde pgo_162.023
darf man nicht gering denken; denn es ist die Formel der Phantasie, aus pgo_162.024
welcher die meisten Religionen hervorgegangen. Da es den höchsten pgo_162.025
Grad anschaulicher Belebung enthält, so hat man es mit Unrecht, dem pgo_162.026
Beispiele der alten Rhetoriker folgend, zu den Figuren gerechnet; doch pgo_162.027
diese rechneten zur Personifikation auch schon das Verfahren des Redners, pgo_162.028
Historikers, Dramatikers und Epikers, welcher andern Personen durch pgo_162.029
die Rede, die er ihnen in den Mund legt, persönliches Leben und Charakterbestimmtheit pgo_162.030
giebt.

pgo_162.031
Wir können drei Arten der Personifikation unterscheiden: die metaphorische, pgo_162.032
die allegorische und die mythologische.

pgo_162.033
Die metaphorische ist im Keim schon in der zweiten Art der Metapher pgo_162.034
enthalten und Nichts, als ihre weitere Ausführung. Sie haucht Dingen pgo_162.035
der Sinnenwelt und Erscheinungen der Natur ein persönliches Leben ein.

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Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben, pgo_162.010
Der täglich sie erobern muß.
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Goethe, Faust.

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Jn diesen Beispielen sind Bilder aus der Sphäre des Krieges auf pgo_162.013
andere geistige Kreise übertragen. [Annotation]

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Die Personifikation (Prosopopöia) ist dasjenige Bild, welches pgo_162.016
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Wir können drei Arten der Personifikation unterscheiden: die metaphorische, pgo_162.032
die allegorische und die mythologische.

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[162/0184] pgo_162.001 Die vierte Art der Metapher setzt ein geistiges Bild für das pgo_162.002 andere. Jndem sie die Sphären des geistigen Lebens vertauscht, eröffnet pgo_162.003 sie freiere Perspektiven und ist daher vorzugsweise geistreich zu nennen. pgo_162.004 Da es ihr indeß an Anschaulichkeit gebricht, so findet sie in der Poesie pgo_162.005 nur selten Anwendung: pgo_162.006 Noch war mein Namen nicht der Welt zur Beute, pgo_162.007 Die selten fühlt und oft so lieblos richtet. pgo_162.008 Platen. Platen: ??? pgo_162.009 Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben, pgo_162.010 Der täglich sie erobern muß. pgo_162.011 Goethe, Faust. pgo_162.012 Jn diesen Beispielen sind Bilder aus der Sphäre des Krieges auf pgo_162.013 andere geistige Kreise übertragen. Bezug zu: Platen/Goethe - ???/Faust pgo_162.014 3. Die Personifikation. pgo_162.015 Die Personifikation (Prosopopöia) ist dasjenige Bild, welches pgo_162.016 dem menschlichen Gemüth am nächsten liegt, und dessen sich schon die pgo_162.017 Wilden und Kinder bedienen. Ein Kind, das den Tisch, an dem es sich pgo_162.018 gestoßen, anredet und schlägt, personificirt das todte Meuble, indem es pgo_162.019 dasselbe wie ein lebendes Wesen behandelt. Durch die Personifikation pgo_162.020 legen wir also abstrakten Begriffen oder leblosen Dingen und Naturerscheinungen pgo_162.021 Eigenschaften, Thätigkeit und Sprache bei, wie sie nur der pgo_162.022 bestimmten menschlichen Jndividualität zukommen. Von diesem Bilde pgo_162.023 darf man nicht gering denken; denn es ist die Formel der Phantasie, aus pgo_162.024 welcher die meisten Religionen hervorgegangen. Da es den höchsten pgo_162.025 Grad anschaulicher Belebung enthält, so hat man es mit Unrecht, dem pgo_162.026 Beispiele der alten Rhetoriker folgend, zu den Figuren gerechnet; doch pgo_162.027 diese rechneten zur Personifikation auch schon das Verfahren des Redners, pgo_162.028 Historikers, Dramatikers und Epikers, welcher andern Personen durch pgo_162.029 die Rede, die er ihnen in den Mund legt, persönliches Leben und Charakterbestimmtheit pgo_162.030 giebt. pgo_162.031 Wir können drei Arten der Personifikation unterscheiden: die metaphorische, pgo_162.032 die allegorische und die mythologische. pgo_162.033 Die metaphorische ist im Keim schon in der zweiten Art der Metapher pgo_162.034 enthalten und Nichts, als ihre weitere Ausführung. Sie haucht Dingen pgo_162.035 der Sinnenwelt und Erscheinungen der Natur ein persönliches Leben ein.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/184>, abgerufen am 28.04.2024.