Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_137.001 pgo_137.003 pgo_137.023 pgo_137.027 pgo_137.001 pgo_137.003 pgo_137.023 pgo_137.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0159" n="137"/> <p><lb n="pgo_137.001"/> Welche gesetzgebende Schöpferkraft in den Bildungen des ersten, <lb n="pgo_137.002"/> welche Verknorpelungen des Styles in denen des zweiten Theiles!</p> <p><lb n="pgo_137.003"/> Aus diesen Beispielen ersehn wir zugleich die größere Prägnanz, die <lb n="pgo_137.004"/> der Ausdruck durch solche Zusammensetzungen gewinnt. Theils werden <lb n="pgo_137.005"/> sie durch eine Verbrüderung von Substantiven gebildet, wie <hi rendition="#g">Sphärenlauf,</hi> <lb n="pgo_137.006"/> für <hi rendition="#g">Lauf der Sphären, Wissensqualm</hi> für Qualm des <lb n="pgo_137.007"/> Wissens, und gewinnen durch die Aufnahme des Genitivs an Kürze und <lb n="pgo_137.008"/> Kraft; theils sind es adjectivische Bestimmungen, die sich in morganatischer <lb n="pgo_137.009"/> Ehe an das Substantivum antrauen lassen: <hi rendition="#g">Brudersphäre</hi> für <lb n="pgo_137.010"/> brüderliche Sphäre, <hi rendition="#g">Riesenfichte</hi> für ries'ge Fichte, <hi rendition="#g">Spiegelfluth</hi> <lb n="pgo_137.011"/> für spiegelnde Fluth, <hi rendition="#g">Blend-</hi> und <hi rendition="#g">Schmeichelkräfte</hi> für blendende <lb n="pgo_137.012"/> und schmeichlerische Kräfte. Eine unglückliche Bereicherung dieser Flora <lb n="pgo_137.013"/> giebt das Wort „<hi rendition="#g">Alt-Wälder</hi>“ im zweiten Theile für „<hi rendition="#g">alte Wälder.</hi>“ <lb n="pgo_137.014"/> Diese Abbreviaturen des Ausdruckes, die aus der Standeserhöhung des <lb n="pgo_137.015"/> Adjectivums hervorgehn, geben ihm eine große Schlagkraft. Noch <lb n="pgo_137.016"/> größer ist die der Antithese, wenn die beiden vereinigten Wörter zugleich <lb n="pgo_137.017"/> entgegengesetzt sind: z. B. <hi rendition="#g">Erdensonne.</hi> „Wechseldauer“ im zweiten <lb n="pgo_137.018"/> Theile klingt gesucht. Goethe liebt es auch, zwei neue Reiser auf einen <lb n="pgo_137.019"/> Wortstamm zu impfen: Traum- und Zaubersphäre, Lock- und Gaukelwerk, <lb n="pgo_137.020"/> wobei das erste in der Regel mehr vom zweiten in's Schlepptau <lb n="pgo_137.021"/> genommen wird, so daß man die Kühnheit der Zusammensetzung z. B. <lb n="pgo_137.022"/> <hi rendition="#g">Lockwerk</hi> überhört.</p> <p><lb n="pgo_137.023"/> Noch wichtiger für die dichterische Diktion als die Wahl des <hi rendition="#g">Hauptwortes</hi> <lb n="pgo_137.024"/> ist die des <hi rendition="#g">Beiwortes,</hi> in welchem sich der eigentliche Zauber <lb n="pgo_137.025"/> der Phantasie und Empfindung und die specifische Kraft jedes einzelnen <lb n="pgo_137.026"/> Talentes ausspricht.</p> <p><lb n="pgo_137.027"/> An den Beiwörtern kann man <hi rendition="#g">Homer</hi> und <hi rendition="#g">Pindar, Aeschylos</hi> <lb n="pgo_137.028"/> und <hi rendition="#g">Sophokles, Virgil</hi> und <hi rendition="#g">Horaz, Schiller</hi> und <hi rendition="#g">Goethe, <lb n="pgo_137.029"/> Heine</hi> und <hi rendition="#g">Lenau</hi> unterscheiden. Schon der alte <hi rendition="#g">Nesichorus</hi> ist <lb n="pgo_137.030"/> wegen des geschicktesten Gebrauchs der Beiwörter für den anmuthigsten <lb n="pgo_137.031"/> Poeten gehalten worden. Ein Beiwort, das eine einfache Bestimmung <lb n="pgo_137.032"/> einfach ausdrückt, kann dennoch eine große Kraft der Bezeichnung, eine <lb n="pgo_137.033"/> große Jnnigkeit der Empfindung ausdrücken. Goethe liebt solche <lb n="pgo_137.034"/> Adjectiva: <hi rendition="#g">hoch, reg, sanft, dunkel, schwer;</hi> hohe Gestalten, rege <lb n="pgo_137.035"/> Wipfel, sanfte Pfeile, dunkles Laub, schwere Wolke.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [137/0159]
pgo_137.001
Welche gesetzgebende Schöpferkraft in den Bildungen des ersten, pgo_137.002
welche Verknorpelungen des Styles in denen des zweiten Theiles!
pgo_137.003
Aus diesen Beispielen ersehn wir zugleich die größere Prägnanz, die pgo_137.004
der Ausdruck durch solche Zusammensetzungen gewinnt. Theils werden pgo_137.005
sie durch eine Verbrüderung von Substantiven gebildet, wie Sphärenlauf, pgo_137.006
für Lauf der Sphären, Wissensqualm für Qualm des pgo_137.007
Wissens, und gewinnen durch die Aufnahme des Genitivs an Kürze und pgo_137.008
Kraft; theils sind es adjectivische Bestimmungen, die sich in morganatischer pgo_137.009
Ehe an das Substantivum antrauen lassen: Brudersphäre für pgo_137.010
brüderliche Sphäre, Riesenfichte für ries'ge Fichte, Spiegelfluth pgo_137.011
für spiegelnde Fluth, Blend- und Schmeichelkräfte für blendende pgo_137.012
und schmeichlerische Kräfte. Eine unglückliche Bereicherung dieser Flora pgo_137.013
giebt das Wort „Alt-Wälder“ im zweiten Theile für „alte Wälder.“ pgo_137.014
Diese Abbreviaturen des Ausdruckes, die aus der Standeserhöhung des pgo_137.015
Adjectivums hervorgehn, geben ihm eine große Schlagkraft. Noch pgo_137.016
größer ist die der Antithese, wenn die beiden vereinigten Wörter zugleich pgo_137.017
entgegengesetzt sind: z. B. Erdensonne. „Wechseldauer“ im zweiten pgo_137.018
Theile klingt gesucht. Goethe liebt es auch, zwei neue Reiser auf einen pgo_137.019
Wortstamm zu impfen: Traum- und Zaubersphäre, Lock- und Gaukelwerk, pgo_137.020
wobei das erste in der Regel mehr vom zweiten in's Schlepptau pgo_137.021
genommen wird, so daß man die Kühnheit der Zusammensetzung z. B. pgo_137.022
Lockwerk überhört.
pgo_137.023
Noch wichtiger für die dichterische Diktion als die Wahl des Hauptwortes pgo_137.024
ist die des Beiwortes, in welchem sich der eigentliche Zauber pgo_137.025
der Phantasie und Empfindung und die specifische Kraft jedes einzelnen pgo_137.026
Talentes ausspricht.
pgo_137.027
An den Beiwörtern kann man Homer und Pindar, Aeschylos pgo_137.028
und Sophokles, Virgil und Horaz, Schiller und Goethe, pgo_137.029
Heine und Lenau unterscheiden. Schon der alte Nesichorus ist pgo_137.030
wegen des geschicktesten Gebrauchs der Beiwörter für den anmuthigsten pgo_137.031
Poeten gehalten worden. Ein Beiwort, das eine einfache Bestimmung pgo_137.032
einfach ausdrückt, kann dennoch eine große Kraft der Bezeichnung, eine pgo_137.033
große Jnnigkeit der Empfindung ausdrücken. Goethe liebt solche pgo_137.034
Adjectiva: hoch, reg, sanft, dunkel, schwer; hohe Gestalten, rege pgo_137.035
Wipfel, sanfte Pfeile, dunkles Laub, schwere Wolke.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |