Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_120.001
einen und denselben Charakter verlegt wird. Es giebt z. B. kaum einen pgo_120.002
größern Gegensatz, als den zwischen einem verfolgten Juden des Mittelalters pgo_120.003
und einem ritterlichen Fürsten jener Zeit! Wenn nun Balzac in pgo_120.004
seiner "Clotilde von Lusignan" uns einen solchen Juden vorführt, der pgo_120.005
als Verfolgter um die Liebe der schönen cyprischen Prinzessin wirbt, wenn pgo_120.006
er diesen Hebräer mit größter Glaubwürdigkeit durch zwei Bände hindurch pgo_120.007
als Alles wagenden schwärmerischen Verehrer der Clotilde hinstellt pgo_120.008
und endlich am Schlusse sich aus diesem Sohn Jsaaks einen provencalischen pgo_120.009
Prinzen entpuppen läßt: so macht dies freilich einen überraschenden pgo_120.010
Eindruck, aber der Kontrast ist grell und unwahr und läßt deshalb im pgo_120.011
Leser ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Wir glauben hinterdrein nicht pgo_120.012
an den ritterlichen Juden, dem jede orientalische Eigenthümlichkeit fehlt, pgo_120.013
und bezweifeln auch, daß Clotilde ihn blos seines Kleides wegen dafür pgo_120.014
halten konnte. Der Roman bietet zugleich ein Beispiel jener märchenhaften pgo_120.015
Ueberraschungen in Bezug auf die Scene der Handlung, die sich pgo_120.016
in ähnlicher Weise in den Romanen von Sue, Montepin u. A. wiederholen. pgo_120.017
Ein dürftiges Haus in einer ärmlichen Straße erweist sich im pgo_120.018
Jnnern als das luxuriöseste Zauberschloß der Welt. So befinden wir pgo_120.019
uns in der "Clotilde" in einer öden Felsengrotte am Meere, vor welche pgo_120.020
der Sturm einen herunterstürzenden Felsen gewälzt und dies Asyl pgo_120.021
rettungslos abgeschlossen hat. Da öffnet sich unverhofft eine Felsenpforte, pgo_120.022
und wir treten in das unterirdische Palais des Judenprinzen, das pgo_120.023
mit orientalischem Luxus ausgestattet ist. Dieser phantastische Decorationenwechsel pgo_120.024
mit seinem scenischen Kontrast ist ein beliebter Drucker pgo_120.025
der französischen Romandichtkunst.

pgo_120.026
Auch in der Anordnung der Gedanken und Empfindungen in der pgo_120.027
lyrischen Komposition kann der Kontrast zur Geltung kommen. Die pgo_120.028
pikante Lyrik der Heine'schen Schule verdankt ihre Hauptwirkungen einem pgo_120.029
Kontrast, der in der Regel unschön ist, weil er die Einheit der Stimmung pgo_120.030
zerreißt. Die Gedichte beginnen mit einem innigen, zart ausgesprochenen pgo_120.031
Gefühle und schließen mit einer frivolen Verspottung desselben. pgo_120.032
Sobald dies Gefühl romantisch übertrieben ist, hat die ironische Auflösung pgo_120.033
ihr gutes Recht -- die Einheit der Stimmung ist dann nicht pgo_120.034
gestört; denn sie beruhte von Haus aus auf dieser auflösenden Jronie, pgo_120.035
welche einer gesunden Empfindung zu ihrem Recht verhilft, indem sie

pgo_120.001
einen und denselben Charakter verlegt wird. Es giebt z. B. kaum einen pgo_120.002
größern Gegensatz, als den zwischen einem verfolgten Juden des Mittelalters pgo_120.003
und einem ritterlichen Fürsten jener Zeit! Wenn nun Balzac in pgo_120.004
seiner „Clotilde von Lusignan“ uns einen solchen Juden vorführt, der pgo_120.005
als Verfolgter um die Liebe der schönen cyprischen Prinzessin wirbt, wenn pgo_120.006
er diesen Hebräer mit größter Glaubwürdigkeit durch zwei Bände hindurch pgo_120.007
als Alles wagenden schwärmerischen Verehrer der Clotilde hinstellt pgo_120.008
und endlich am Schlusse sich aus diesem Sohn Jsaaks einen provençalischen pgo_120.009
Prinzen entpuppen läßt: so macht dies freilich einen überraschenden pgo_120.010
Eindruck, aber der Kontrast ist grell und unwahr und läßt deshalb im pgo_120.011
Leser ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Wir glauben hinterdrein nicht pgo_120.012
an den ritterlichen Juden, dem jede orientalische Eigenthümlichkeit fehlt, pgo_120.013
und bezweifeln auch, daß Clotilde ihn blos seines Kleides wegen dafür pgo_120.014
halten konnte. Der Roman bietet zugleich ein Beispiel jener märchenhaften pgo_120.015
Ueberraschungen in Bezug auf die Scene der Handlung, die sich pgo_120.016
in ähnlicher Weise in den Romanen von Sue, Montépin u. A. wiederholen. pgo_120.017
Ein dürftiges Haus in einer ärmlichen Straße erweist sich im pgo_120.018
Jnnern als das luxuriöseste Zauberschloß der Welt. So befinden wir pgo_120.019
uns in der „Clotilde“ in einer öden Felsengrotte am Meere, vor welche pgo_120.020
der Sturm einen herunterstürzenden Felsen gewälzt und dies Asyl pgo_120.021
rettungslos abgeschlossen hat. Da öffnet sich unverhofft eine Felsenpforte, pgo_120.022
und wir treten in das unterirdische Palais des Judenprinzen, das pgo_120.023
mit orientalischem Luxus ausgestattet ist. Dieser phantastische Decorationenwechsel pgo_120.024
mit seinem scenischen Kontrast ist ein beliebter Drucker pgo_120.025
der französischen Romandichtkunst.

pgo_120.026
Auch in der Anordnung der Gedanken und Empfindungen in der pgo_120.027
lyrischen Komposition kann der Kontrast zur Geltung kommen. Die pgo_120.028
pikante Lyrik der Heine'schen Schule verdankt ihre Hauptwirkungen einem pgo_120.029
Kontrast, der in der Regel unschön ist, weil er die Einheit der Stimmung pgo_120.030
zerreißt. Die Gedichte beginnen mit einem innigen, zart ausgesprochenen pgo_120.031
Gefühle und schließen mit einer frivolen Verspottung desselben. pgo_120.032
Sobald dies Gefühl romantisch übertrieben ist, hat die ironische Auflösung pgo_120.033
ihr gutes Recht — die Einheit der Stimmung ist dann nicht pgo_120.034
gestört; denn sie beruhte von Haus aus auf dieser auflösenden Jronie, pgo_120.035
welche einer gesunden Empfindung zu ihrem Recht verhilft, indem sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0142" n="120"/><lb n="pgo_120.001"/>
einen und denselben Charakter verlegt wird. Es giebt z. B. kaum einen <lb n="pgo_120.002"/>
größern Gegensatz, als den zwischen einem verfolgten Juden des Mittelalters <lb n="pgo_120.003"/>
und einem ritterlichen Fürsten jener Zeit! Wenn nun Balzac in <lb n="pgo_120.004"/>
seiner &#x201E;Clotilde von Lusignan&#x201C; uns einen solchen Juden vorführt, der <lb n="pgo_120.005"/>
als Verfolgter um die Liebe der schönen cyprischen Prinzessin wirbt, wenn <lb n="pgo_120.006"/>
er diesen Hebräer mit größter Glaubwürdigkeit durch zwei Bände hindurch <lb n="pgo_120.007"/>
als Alles wagenden schwärmerischen Verehrer der Clotilde hinstellt <lb n="pgo_120.008"/>
und endlich am Schlusse sich aus diesem Sohn Jsaaks einen provençalischen <lb n="pgo_120.009"/>
Prinzen entpuppen läßt: so macht dies freilich einen überraschenden <lb n="pgo_120.010"/>
Eindruck, aber der Kontrast ist grell und unwahr und läßt deshalb im <lb n="pgo_120.011"/>
Leser ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Wir glauben hinterdrein nicht <lb n="pgo_120.012"/>
an den ritterlichen Juden, dem jede orientalische Eigenthümlichkeit fehlt, <lb n="pgo_120.013"/>
und bezweifeln auch, daß Clotilde ihn blos seines Kleides wegen dafür <lb n="pgo_120.014"/>
halten konnte. Der Roman bietet zugleich ein Beispiel jener märchenhaften <lb n="pgo_120.015"/>
Ueberraschungen in Bezug auf die Scene der Handlung, die sich <lb n="pgo_120.016"/>
in ähnlicher Weise in den Romanen von <hi rendition="#g">Sue, Montépin</hi> u. A. wiederholen. <lb n="pgo_120.017"/>
Ein dürftiges Haus in einer ärmlichen Straße erweist sich im <lb n="pgo_120.018"/>
Jnnern als das luxuriöseste Zauberschloß der Welt. So befinden wir <lb n="pgo_120.019"/>
uns in der &#x201E;Clotilde&#x201C; in einer öden Felsengrotte am Meere, vor welche <lb n="pgo_120.020"/>
der Sturm einen herunterstürzenden Felsen gewälzt und dies Asyl <lb n="pgo_120.021"/>
rettungslos abgeschlossen hat. Da öffnet sich unverhofft eine Felsenpforte, <lb n="pgo_120.022"/>
und wir treten in das unterirdische Palais des Judenprinzen, das <lb n="pgo_120.023"/>
mit orientalischem Luxus ausgestattet ist. Dieser phantastische Decorationenwechsel <lb n="pgo_120.024"/>
mit seinem <hi rendition="#g">scenischen Kontrast</hi> ist ein beliebter Drucker <lb n="pgo_120.025"/>
der französischen Romandichtkunst.</p>
              <p><lb n="pgo_120.026"/>
Auch in der Anordnung der Gedanken und Empfindungen in der <lb n="pgo_120.027"/>
lyrischen Komposition kann der Kontrast zur Geltung kommen. Die <lb n="pgo_120.028"/>
pikante Lyrik der Heine'schen Schule verdankt ihre Hauptwirkungen einem <lb n="pgo_120.029"/>
Kontrast, der in der Regel unschön ist, weil er die Einheit der Stimmung <lb n="pgo_120.030"/>
zerreißt. Die Gedichte beginnen mit einem innigen, zart ausgesprochenen <lb n="pgo_120.031"/>
Gefühle und schließen mit einer frivolen Verspottung desselben. <lb n="pgo_120.032"/>
Sobald dies Gefühl romantisch übertrieben ist, hat die ironische Auflösung <lb n="pgo_120.033"/>
ihr gutes Recht &#x2014; die Einheit der Stimmung ist dann nicht <lb n="pgo_120.034"/>
gestört; denn sie beruhte von Haus aus auf dieser auflösenden Jronie, <lb n="pgo_120.035"/>
welche einer gesunden Empfindung zu ihrem Recht verhilft, indem sie
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0142] pgo_120.001 einen und denselben Charakter verlegt wird. Es giebt z. B. kaum einen pgo_120.002 größern Gegensatz, als den zwischen einem verfolgten Juden des Mittelalters pgo_120.003 und einem ritterlichen Fürsten jener Zeit! Wenn nun Balzac in pgo_120.004 seiner „Clotilde von Lusignan“ uns einen solchen Juden vorführt, der pgo_120.005 als Verfolgter um die Liebe der schönen cyprischen Prinzessin wirbt, wenn pgo_120.006 er diesen Hebräer mit größter Glaubwürdigkeit durch zwei Bände hindurch pgo_120.007 als Alles wagenden schwärmerischen Verehrer der Clotilde hinstellt pgo_120.008 und endlich am Schlusse sich aus diesem Sohn Jsaaks einen provençalischen pgo_120.009 Prinzen entpuppen läßt: so macht dies freilich einen überraschenden pgo_120.010 Eindruck, aber der Kontrast ist grell und unwahr und läßt deshalb im pgo_120.011 Leser ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Wir glauben hinterdrein nicht pgo_120.012 an den ritterlichen Juden, dem jede orientalische Eigenthümlichkeit fehlt, pgo_120.013 und bezweifeln auch, daß Clotilde ihn blos seines Kleides wegen dafür pgo_120.014 halten konnte. Der Roman bietet zugleich ein Beispiel jener märchenhaften pgo_120.015 Ueberraschungen in Bezug auf die Scene der Handlung, die sich pgo_120.016 in ähnlicher Weise in den Romanen von Sue, Montépin u. A. wiederholen. pgo_120.017 Ein dürftiges Haus in einer ärmlichen Straße erweist sich im pgo_120.018 Jnnern als das luxuriöseste Zauberschloß der Welt. So befinden wir pgo_120.019 uns in der „Clotilde“ in einer öden Felsengrotte am Meere, vor welche pgo_120.020 der Sturm einen herunterstürzenden Felsen gewälzt und dies Asyl pgo_120.021 rettungslos abgeschlossen hat. Da öffnet sich unverhofft eine Felsenpforte, pgo_120.022 und wir treten in das unterirdische Palais des Judenprinzen, das pgo_120.023 mit orientalischem Luxus ausgestattet ist. Dieser phantastische Decorationenwechsel pgo_120.024 mit seinem scenischen Kontrast ist ein beliebter Drucker pgo_120.025 der französischen Romandichtkunst. pgo_120.026 Auch in der Anordnung der Gedanken und Empfindungen in der pgo_120.027 lyrischen Komposition kann der Kontrast zur Geltung kommen. Die pgo_120.028 pikante Lyrik der Heine'schen Schule verdankt ihre Hauptwirkungen einem pgo_120.029 Kontrast, der in der Regel unschön ist, weil er die Einheit der Stimmung pgo_120.030 zerreißt. Die Gedichte beginnen mit einem innigen, zart ausgesprochenen pgo_120.031 Gefühle und schließen mit einer frivolen Verspottung desselben. pgo_120.032 Sobald dies Gefühl romantisch übertrieben ist, hat die ironische Auflösung pgo_120.033 ihr gutes Recht — die Einheit der Stimmung ist dann nicht pgo_120.034 gestört; denn sie beruhte von Haus aus auf dieser auflösenden Jronie, pgo_120.035 welche einer gesunden Empfindung zu ihrem Recht verhilft, indem sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/142
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/142>, abgerufen am 22.11.2024.