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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Sue's "ewigem Juden," indem hier die geheimnißvolle Erbschaft einen pgo_118.002
mehr zufälligen Einheitspunkt giebt, um den sich die ausgesucht verschiedensten pgo_118.003
Lebensstellungen vom indischen Prinzen bis zum Pariser pgo_118.004
ouvrier, von der reichsten Weltdame bis zur armen Grisette gruppiren. pgo_118.005
Der "ewige Jude" und "die Ritter vom Geiste," welche in ihrer Komposition pgo_118.006
an ihn erinnern, zeigen indeß am klarsten das Wesen romanhafter pgo_118.007
Gruppirung, die nicht auf dem scharfen Gegensatz beruht, sondern um pgo_118.008
irgend eine Mitte, wie dort um eine Erbschaft, hier um einen Gedankenbund, pgo_118.009
einen harmonischen Farbenkreis bildet. Jm Drama dagegen ist pgo_118.010
die Gruppirung der Charaktere eine polare -- die Achse der Handlung pgo_118.011
hat zwei Pole, die kämpfenden Principien und Charaktere. Kreon und pgo_118.012
Antigone, Maria Stuart und Elisabeth, Karl und Franz Moor erläutern pgo_118.013
diese Gegenüberstellung. Es kann sich dieser polare Gegensatz in zwei pgo_118.014
concentrischen Kreisen wiederholen, wie z. B. Lear und seine Töchter, pgo_118.015
Gloster und seine Söhne; er kann sich in der historischen Tragödie, doch pgo_118.016
schon auf Unkosten des strengeren dramatischen Styles, an zwei Parteien, pgo_118.017
an zwei Völker vertheilen, wie in den patriotischen Tragödieen Shakespeare's pgo_118.018
an die weiße und rothe Rose, in Schiller's "Wilhelm Tell" an pgo_118.019
die Oesterreicher und Schweizer. Nach beiden Seiten hin gruppiren sich pgo_118.020
nun um die kämpfenden Haupt-Charaktere die andern Gestalten und pgo_118.021
bilden theils in parallelen, theils in convergirenden und divergirenden pgo_118.022
Linien Uebergänge zwischen ihnen. Je symmetrischer dies Liniennetz pgo_118.023
entworfen ist: um so harmonischer wird die Wirkung des Drama's sein. pgo_118.024
Ein Beispiel dieser kunstvollen Gruppirung bietet von unsern deutschen pgo_118.025
Dramen vorzüglich Schiller's "Maria Stuart." Hier stehen sich die pgo_118.026
beiden Königinnen mit einem Reichthum von Kontrasten gegenüber: die pgo_118.027
eine als freie Herrscherin, die andere in Banden, die eine stolz auf ihre pgo_118.028
jungfräuliche Würde, die andere mit dem Hintergrund mehrfacher Ehen pgo_118.029
und verbrecherischer Liebeshändel, die eine eitel und herrschsüchtig, die pgo_118.030
andere sanft und resignirt, die eine umgeben von der unmittelbaren pgo_118.031
Glorie der Majestät, die andere verklärt durch die Erinnerung an eine pgo_118.032
ihr geraubte Macht, die eine geschmeichelt von einer verrätherischen Werbung, pgo_118.033
die andere geliebt mit wahnsinniger Leidenschaft. Um Elisabeth pgo_118.034
selbst stehen ihre Rathgeber, der staatsmännisch ernste und finstere Burleigh pgo_118.035
und der ehrwürdige, dem Zug des Herzens folgende Shrewsbury.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/140>, abgerufen am 22.11.2024.