Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_104.001
Die Vorstufe des antiken Jdeals ist das orientalische, das symbolische. pgo_104.002
Jm Symbol deckt das Bild nicht die Jdee; es leuchtet nur pgo_104.003
flüchtig in ihre dunkle Tiefe. Daher werden tausend Fackeln angesteckt, pgo_104.004
aber dies wogende Glanzmeer erhellt nimmer den Abgrund der einen, pgo_104.005
dunklen Substanz. Ueberladung des Ausdrucks, Pracht und Fülle der pgo_104.006
Bilder, die aber immer nur auf den Gedanken hinzeigen und ihn nicht pgo_104.007
tragen, ein unklarer Mythus, der sich von der symbolischen Hülle nicht pgo_104.008
losgerungen hat, ein Hin- und Herspielen der Beziehungen und der pgo_104.009
Bedeutungen charakterisiren die symbolische Stufe. Die Dichtung selbst pgo_104.010
wurzelt ganz in der Religion. Die Dichter aber sind Träger des Volksgeistes pgo_104.011
-- ihre Werke bedeutsamere Denkmäler, als die riesigen Bauwerke, pgo_104.012
deren Trümmer noch bestehn. Das Mahabharata, das Ramayana, pgo_104.013
die Dramen des Kalidasa sprechen die indische Weltanschauung tiefer pgo_104.014
und lebendiger aus, als etwa der Tempel von Elephantine! Und wie pgo_104.015
unterscheidet sich wieder von diesen die dualistische Heldensage von Jran pgo_104.016
und Turan in dem gewaltigen Parsenepos des Firdusi! Seit Goethe's pgo_104.017
"westöstlichem Divan" ist es Mode geworden, den seelenerregenden pgo_104.018
Gesang Bulbul's auch in den deutschen Dichterwäldern ertönen zu lassen, pgo_104.019
und besonders Rückert hat in Ghaselen und Makamen die priesterliche pgo_104.020
Weisheit eines orientalischen Sarastro an den Tag gelegt! Man lehrte, pgo_104.021
wie die Brahmanen; man liebte, wie der persische Hafis; man erzählte, pgo_104.022
wie der arabische Hariri, und hinterdrein kam Mirza-Schaffi, der Weise pgo_104.023
von Tiflis! Auch äußerlich schwelgte die orientalische Lyrik in jener pgo_104.024
Bilderfülle, die sich um den dunklen Gedanken legt, wie Perle und pgo_104.025
Edelstein um das dunkle Teint der Orientalin! Das bunte Leben des pgo_104.026
Orientes konnte man sich wohl gefallen lassen, um so mehr, als jene pgo_104.027
stabile Welt noch immer das Gepräge der Urzeit trägt und mit der pgo_104.028
Kultur der Gegenwart in die mannichfachsten Berührungen kommt; die pgo_104.029
Lebens- und Liebesweisheit eines Hafis in ihrer Polemik gegen ascetisches pgo_104.030
Kuttenwesen konnte sogar als frisches Ferment in den Kämpfen der pgo_104.031
Gegenwart benutzt werden; aber das Gemeinsame mit jener Weltanschauung pgo_104.032
bewegt sich immer nur auf der Oberfläche; in den Tiefen pgo_104.033
herrscht eine weltweite Verschiedenheit zwischen dem symbolischen und pgo_104.034
dem modernen Jdeal. Bearbeitungen und Nachdichtungen jener Poesie pgo_104.035
können in weitern Kreisen ein wissenschaftliches und ästhetisches Jnteresse

pgo_104.001
Die Vorstufe des antiken Jdeals ist das orientalische, das symbolische. pgo_104.002
Jm Symbol deckt das Bild nicht die Jdee; es leuchtet nur pgo_104.003
flüchtig in ihre dunkle Tiefe. Daher werden tausend Fackeln angesteckt, pgo_104.004
aber dies wogende Glanzmeer erhellt nimmer den Abgrund der einen, pgo_104.005
dunklen Substanz. Ueberladung des Ausdrucks, Pracht und Fülle der pgo_104.006
Bilder, die aber immer nur auf den Gedanken hinzeigen und ihn nicht pgo_104.007
tragen, ein unklarer Mythus, der sich von der symbolischen Hülle nicht pgo_104.008
losgerungen hat, ein Hin- und Herspielen der Beziehungen und der pgo_104.009
Bedeutungen charakterisiren die symbolische Stufe. Die Dichtung selbst pgo_104.010
wurzelt ganz in der Religion. Die Dichter aber sind Träger des Volksgeistes pgo_104.011
— ihre Werke bedeutsamere Denkmäler, als die riesigen Bauwerke, pgo_104.012
deren Trümmer noch bestehn. Das Mahabharata, das Ramayana, pgo_104.013
die Dramen des Kalidasa sprechen die indische Weltanschauung tiefer pgo_104.014
und lebendiger aus, als etwa der Tempel von Elephantine! Und wie pgo_104.015
unterscheidet sich wieder von diesen die dualistische Heldensage von Jran pgo_104.016
und Turan in dem gewaltigen Parsenepos des Firdusi! Seit Goethe's pgo_104.017
„westöstlichem Divan“ ist es Mode geworden, den seelenerregenden pgo_104.018
Gesang Bulbul's auch in den deutschen Dichterwäldern ertönen zu lassen, pgo_104.019
und besonders Rückert hat in Ghaselen und Makamen die priesterliche pgo_104.020
Weisheit eines orientalischen Sarastro an den Tag gelegt! Man lehrte, pgo_104.021
wie die Brahmanen; man liebte, wie der persische Hafis; man erzählte, pgo_104.022
wie der arabische Hariri, und hinterdrein kam Mirza-Schaffi, der Weise pgo_104.023
von Tiflis! Auch äußerlich schwelgte die orientalische Lyrik in jener pgo_104.024
Bilderfülle, die sich um den dunklen Gedanken legt, wie Perle und pgo_104.025
Edelstein um das dunkle Teint der Orientalin! Das bunte Leben des pgo_104.026
Orientes konnte man sich wohl gefallen lassen, um so mehr, als jene pgo_104.027
stabile Welt noch immer das Gepräge der Urzeit trägt und mit der pgo_104.028
Kultur der Gegenwart in die mannichfachsten Berührungen kommt; die pgo_104.029
Lebens- und Liebesweisheit eines Hafis in ihrer Polemik gegen ascetisches pgo_104.030
Kuttenwesen konnte sogar als frisches Ferment in den Kämpfen der pgo_104.031
Gegenwart benutzt werden; aber das Gemeinsame mit jener Weltanschauung pgo_104.032
bewegt sich immer nur auf der Oberfläche; in den Tiefen pgo_104.033
herrscht eine weltweite Verschiedenheit zwischen dem symbolischen und pgo_104.034
dem modernen Jdeal. Bearbeitungen und Nachdichtungen jener Poesie pgo_104.035
können in weitern Kreisen ein wissenschaftliches und ästhetisches Jnteresse

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0126" n="104"/>
              <p><lb n="pgo_104.001"/>
Die Vorstufe des antiken Jdeals ist das orientalische, das <hi rendition="#g">symbolische.</hi> <lb n="pgo_104.002"/>
Jm Symbol deckt das Bild nicht die Jdee; es leuchtet nur <lb n="pgo_104.003"/>
flüchtig in ihre dunkle Tiefe. Daher werden tausend Fackeln angesteckt, <lb n="pgo_104.004"/>
aber dies wogende Glanzmeer erhellt nimmer den Abgrund der einen, <lb n="pgo_104.005"/>
dunklen Substanz. Ueberladung des Ausdrucks, Pracht und Fülle der <lb n="pgo_104.006"/>
Bilder, die aber immer nur auf den Gedanken hinzeigen und ihn nicht <lb n="pgo_104.007"/>
tragen, ein unklarer Mythus, der sich von der symbolischen Hülle nicht <lb n="pgo_104.008"/>
losgerungen hat, ein Hin- und Herspielen der Beziehungen und der <lb n="pgo_104.009"/>
Bedeutungen charakterisiren die symbolische Stufe. Die Dichtung selbst <lb n="pgo_104.010"/>
wurzelt ganz in der Religion. Die Dichter aber sind Träger des <hi rendition="#g">Volksgeistes</hi> <lb n="pgo_104.011"/>
&#x2014; ihre Werke bedeutsamere Denkmäler, als die riesigen Bauwerke, <lb n="pgo_104.012"/>
deren Trümmer noch bestehn. Das Mahabharata, das Ramayana, <lb n="pgo_104.013"/>
die Dramen des Kalidasa sprechen die indische Weltanschauung tiefer <lb n="pgo_104.014"/>
und lebendiger aus, als etwa der Tempel von Elephantine! Und wie <lb n="pgo_104.015"/>
unterscheidet sich wieder von diesen die dualistische Heldensage von Jran <lb n="pgo_104.016"/>
und Turan in dem gewaltigen Parsenepos des Firdusi! Seit Goethe's <lb n="pgo_104.017"/>
&#x201E;westöstlichem Divan&#x201C; ist es Mode geworden, den seelenerregenden <lb n="pgo_104.018"/>
Gesang Bulbul's auch in den deutschen Dichterwäldern ertönen zu lassen, <lb n="pgo_104.019"/>
und besonders <hi rendition="#g">Rückert</hi> hat in Ghaselen und Makamen die priesterliche <lb n="pgo_104.020"/>
Weisheit eines orientalischen Sarastro an den Tag gelegt! Man lehrte, <lb n="pgo_104.021"/>
wie die Brahmanen; man liebte, wie der persische Hafis; man erzählte, <lb n="pgo_104.022"/>
wie der arabische Hariri, und hinterdrein kam Mirza-Schaffi, der Weise <lb n="pgo_104.023"/>
von Tiflis! Auch äußerlich schwelgte die orientalische Lyrik in jener <lb n="pgo_104.024"/>
Bilderfülle, die sich um den dunklen Gedanken legt, wie Perle und <lb n="pgo_104.025"/>
Edelstein um das dunkle Teint der Orientalin! Das bunte Leben des <lb n="pgo_104.026"/>
Orientes konnte man sich wohl gefallen lassen, um so mehr, als jene <lb n="pgo_104.027"/>
stabile Welt noch immer das Gepräge der Urzeit trägt und mit der <lb n="pgo_104.028"/>
Kultur der Gegenwart in die mannichfachsten Berührungen kommt; die <lb n="pgo_104.029"/>
Lebens- und Liebesweisheit eines Hafis in ihrer Polemik gegen ascetisches <lb n="pgo_104.030"/>
Kuttenwesen konnte sogar als frisches Ferment in den Kämpfen der <lb n="pgo_104.031"/>
Gegenwart benutzt werden; aber das Gemeinsame mit jener Weltanschauung <lb n="pgo_104.032"/>
bewegt sich immer nur auf der Oberfläche; in den Tiefen <lb n="pgo_104.033"/>
herrscht eine weltweite Verschiedenheit zwischen dem symbolischen und <lb n="pgo_104.034"/>
dem modernen Jdeal. Bearbeitungen und Nachdichtungen jener Poesie <lb n="pgo_104.035"/>
können in weitern Kreisen ein wissenschaftliches und ästhetisches Jnteresse
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0126] pgo_104.001 Die Vorstufe des antiken Jdeals ist das orientalische, das symbolische. pgo_104.002 Jm Symbol deckt das Bild nicht die Jdee; es leuchtet nur pgo_104.003 flüchtig in ihre dunkle Tiefe. Daher werden tausend Fackeln angesteckt, pgo_104.004 aber dies wogende Glanzmeer erhellt nimmer den Abgrund der einen, pgo_104.005 dunklen Substanz. Ueberladung des Ausdrucks, Pracht und Fülle der pgo_104.006 Bilder, die aber immer nur auf den Gedanken hinzeigen und ihn nicht pgo_104.007 tragen, ein unklarer Mythus, der sich von der symbolischen Hülle nicht pgo_104.008 losgerungen hat, ein Hin- und Herspielen der Beziehungen und der pgo_104.009 Bedeutungen charakterisiren die symbolische Stufe. Die Dichtung selbst pgo_104.010 wurzelt ganz in der Religion. Die Dichter aber sind Träger des Volksgeistes pgo_104.011 — ihre Werke bedeutsamere Denkmäler, als die riesigen Bauwerke, pgo_104.012 deren Trümmer noch bestehn. Das Mahabharata, das Ramayana, pgo_104.013 die Dramen des Kalidasa sprechen die indische Weltanschauung tiefer pgo_104.014 und lebendiger aus, als etwa der Tempel von Elephantine! Und wie pgo_104.015 unterscheidet sich wieder von diesen die dualistische Heldensage von Jran pgo_104.016 und Turan in dem gewaltigen Parsenepos des Firdusi! Seit Goethe's pgo_104.017 „westöstlichem Divan“ ist es Mode geworden, den seelenerregenden pgo_104.018 Gesang Bulbul's auch in den deutschen Dichterwäldern ertönen zu lassen, pgo_104.019 und besonders Rückert hat in Ghaselen und Makamen die priesterliche pgo_104.020 Weisheit eines orientalischen Sarastro an den Tag gelegt! Man lehrte, pgo_104.021 wie die Brahmanen; man liebte, wie der persische Hafis; man erzählte, pgo_104.022 wie der arabische Hariri, und hinterdrein kam Mirza-Schaffi, der Weise pgo_104.023 von Tiflis! Auch äußerlich schwelgte die orientalische Lyrik in jener pgo_104.024 Bilderfülle, die sich um den dunklen Gedanken legt, wie Perle und pgo_104.025 Edelstein um das dunkle Teint der Orientalin! Das bunte Leben des pgo_104.026 Orientes konnte man sich wohl gefallen lassen, um so mehr, als jene pgo_104.027 stabile Welt noch immer das Gepräge der Urzeit trägt und mit der pgo_104.028 Kultur der Gegenwart in die mannichfachsten Berührungen kommt; die pgo_104.029 Lebens- und Liebesweisheit eines Hafis in ihrer Polemik gegen ascetisches pgo_104.030 Kuttenwesen konnte sogar als frisches Ferment in den Kämpfen der pgo_104.031 Gegenwart benutzt werden; aber das Gemeinsame mit jener Weltanschauung pgo_104.032 bewegt sich immer nur auf der Oberfläche; in den Tiefen pgo_104.033 herrscht eine weltweite Verschiedenheit zwischen dem symbolischen und pgo_104.034 dem modernen Jdeal. Bearbeitungen und Nachdichtungen jener Poesie pgo_104.035 können in weitern Kreisen ein wissenschaftliches und ästhetisches Jnteresse

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/126
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/126>, abgerufen am 22.11.2024.