pgo_099.001 Die Nachahmung des Wirklichen als eine bloße Wiederholung desselben pgo_099.002 kann das Kunstschöne nicht erzeugen. Zwar dürfen wir nicht vergessen, pgo_099.003 daß auch bei dieser bloßen Wiederholung ein Durchgang durch die pgo_099.004 Phantasie des Künstlers stattfindet, der das Wirkliche von einigen pgo_099.005 Schlacken säubert und einen, wenn auch schwachen Schimmer des Jdealen pgo_099.006 darüber ausgießt. Doch ist dieser poetische Hauch nicht bedeutsamer, pgo_099.007 als was uns aus einem Tagebuch, einer Biographie, Memoiren anweht pgo_099.008 -- nur Silber- und Goldpapier, das sich an die rauhe Schaale der Wirklichkeit pgo_099.009 anschmiegt, ohne sie aufzulösen! Sehen wir nun, welche Rolle pgo_099.010 der Realismus in der Poesie spielt und unter welchen Auspicien er den pgo_099.011 Sieg über seinen Gegner zu erringen sucht!
pgo_099.012 Die industrielle Entwickelung der Neuzeit, der praktische Zug unserer pgo_099.013 Kultur scheint jene stille Jdeeenwelt zerstört zu haben, in welcher die Denker pgo_099.014 und Dichter von Weimar gelebt! Man drängt die Poesie auf den pgo_099.015 Markt der öffentlichen Jnteressen, und nachdem sie eine Zeit lang den pgo_099.016 politischen und religiösen Tendenzen gedient, soll sie jetzt der Prosa des pgo_099.017 Lebens, den Jnteressen der verschiedenen Stände, dem Ackerbau, dem pgo_099.018 Fabrikwesen, dem Handel und den Gewerben dienstbar werden. Auch pgo_099.019 diese Seite unserer Kultur hat ihre Jdealität -- wir erinnern nur daran, pgo_099.020 wie Grün, Beck und Geibel dem Dampf und den Eisenbahnen ihr pgo_099.021 poetisches Element abgelauscht! Aber der Realismus will, daß wir uns pgo_099.022 für die Dinge, wie sie gerade sind, interessiren, daß die Poesie die Wirklichkeit pgo_099.023 abschreibe und das profane Berufsleben mit ihrem Zauber heilige! pgo_099.024 Man hat z. B. den Satz proklamirt: der Roman soll das deutsche Volk pgo_099.025 bei seiner Arbeit suchen! Jn Folge dieses Satzes haben wir nun Romane pgo_099.026 erhalten, in denen sich die Poesie der Materialwaarenhandlungen, der pgo_099.027 Schieferdeckerei und verschiedener anderer Gewerbe geltend macht! Jener pgo_099.028 mit so vielen Prätensionen auftretende Satz ist indeß nicht viel mehr als pgo_099.029 eine Nichts sagende Phrase! Die Arbeit isolirt den Menschen und um so pgo_099.030 mehr, je mehr sie sich in ein technisches Detail vertiefen muß. Ein Fabrikarbeiter, pgo_099.031 der jahraus jahrein dieselbe mechanische Handbewegung macht, pgo_099.032 wird die Poesie seines Lebens gewiß nicht in seiner Arbeit suchen, und pgo_099.033 wenn auch ein Schneider, nach der Autorität Heinrich Heine's, in seinen pgo_099.034 Rock "Jdeeen" legen kann, so wird doch die Poesie einer Schneiderwerkstatt pgo_099.035 bald erschöpft sein, so rasch, daß sie für den mehrbändigen Roman
pgo_099.001 Die Nachahmung des Wirklichen als eine bloße Wiederholung desselben pgo_099.002 kann das Kunstschöne nicht erzeugen. Zwar dürfen wir nicht vergessen, pgo_099.003 daß auch bei dieser bloßen Wiederholung ein Durchgang durch die pgo_099.004 Phantasie des Künstlers stattfindet, der das Wirkliche von einigen pgo_099.005 Schlacken säubert und einen, wenn auch schwachen Schimmer des Jdealen pgo_099.006 darüber ausgießt. Doch ist dieser poetische Hauch nicht bedeutsamer, pgo_099.007 als was uns aus einem Tagebuch, einer Biographie, Memoiren anweht pgo_099.008 — nur Silber- und Goldpapier, das sich an die rauhe Schaale der Wirklichkeit pgo_099.009 anschmiegt, ohne sie aufzulösen! Sehen wir nun, welche Rolle pgo_099.010 der Realismus in der Poesie spielt und unter welchen Auspicien er den pgo_099.011 Sieg über seinen Gegner zu erringen sucht!
pgo_099.012 Die industrielle Entwickelung der Neuzeit, der praktische Zug unserer pgo_099.013 Kultur scheint jene stille Jdeeenwelt zerstört zu haben, in welcher die Denker pgo_099.014 und Dichter von Weimar gelebt! Man drängt die Poesie auf den pgo_099.015 Markt der öffentlichen Jnteressen, und nachdem sie eine Zeit lang den pgo_099.016 politischen und religiösen Tendenzen gedient, soll sie jetzt der Prosa des pgo_099.017 Lebens, den Jnteressen der verschiedenen Stände, dem Ackerbau, dem pgo_099.018 Fabrikwesen, dem Handel und den Gewerben dienstbar werden. Auch pgo_099.019 diese Seite unserer Kultur hat ihre Jdealität — wir erinnern nur daran, pgo_099.020 wie Grün, Beck und Geibel dem Dampf und den Eisenbahnen ihr pgo_099.021 poetisches Element abgelauscht! Aber der Realismus will, daß wir uns pgo_099.022 für die Dinge, wie sie gerade sind, interessiren, daß die Poesie die Wirklichkeit pgo_099.023 abschreibe und das profane Berufsleben mit ihrem Zauber heilige! pgo_099.024 Man hat z. B. den Satz proklamirt: der Roman soll das deutsche Volk pgo_099.025 bei seiner Arbeit suchen! Jn Folge dieses Satzes haben wir nun Romane pgo_099.026 erhalten, in denen sich die Poesie der Materialwaarenhandlungen, der pgo_099.027 Schieferdeckerei und verschiedener anderer Gewerbe geltend macht! Jener pgo_099.028 mit so vielen Prätensionen auftretende Satz ist indeß nicht viel mehr als pgo_099.029 eine Nichts sagende Phrase! Die Arbeit isolirt den Menschen und um so pgo_099.030 mehr, je mehr sie sich in ein technisches Detail vertiefen muß. Ein Fabrikarbeiter, pgo_099.031 der jahraus jahrein dieselbe mechanische Handbewegung macht, pgo_099.032 wird die Poesie seines Lebens gewiß nicht in seiner Arbeit suchen, und pgo_099.033 wenn auch ein Schneider, nach der Autorität Heinrich Heine's, in seinen pgo_099.034 Rock „Jdeeen“ legen kann, so wird doch die Poesie einer Schneiderwerkstatt pgo_099.035 bald erschöpft sein, so rasch, daß sie für den mehrbändigen Roman
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/121>, abgerufen am 24.11.2024.
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