pgo_089.001 und Leidenschaftliches, aber nicht das Schöne hervorrufen! Wohl aber pgo_089.002 muß die Dichtung des Nüchternen stets vor der Dichtung des Begeisterten pgo_089.003 verschwinden, und Plato hat die hohe Bedeutung der "gesunden Manie," pgo_089.004 des begeisterten Heraustretens aus dem gewohnten Gleise, nach Gebühr pgo_089.005 gewürdigt. Jn seinem "Jon" läßt er den Sokrates sagen: "Alle wahren pgo_089.006 Epiker, wie alle wahren Lyriker, bringen nicht durch Kunst, nur durch pgo_089.007 Begeisterung alle die schönen Gedichte hervor. Und wie die korybantischen pgo_089.008 Tänzer nicht in bewußtem Zustande tanzen, so dichten auch die Lyriker pgo_089.009 ihre schönen Lieder nicht bewußt, sondern sind toll, wenn sie in Ton pgo_089.010 und Tact hineingerathen. Und wie die Bacchantinnen in ihrem Rausch pgo_089.011 aus Bächen Milch und Honig schöpfen, aber nicht, wenn sie bewußt sind: pgo_089.012 so thut auch der Geist der Lyriker das, was sie selbst sagen: denn sie versichern pgo_089.013 uns ja, daß sie von Honigbächen aus Gärten und Auen der Musen pgo_089.014 ihre Lieder, umherfliegend gleich den Bienen, pflücken und uns darbringen. pgo_089.015 Und sie haben Recht: denn der Dichter ist ein leichtgeflügeltes, pgo_089.016 geweihtes Wesen und nicht eher zum Dichten fähig, als bis er begeistert, pgo_089.017 unbewußt und von Sinnen ist."
pgo_089.018 Wenn der göttliche Plato den Hauptnachdruck auf die Begeisterung pgo_089.019 legt: so stellt schon der schärfere Aristoteles ihr die Besonnenheit als gleichberechtigt pgo_089.020 zur Seite, indem er die Gabe der Dichtkunst ebenso dem Feinfühligen, pgo_089.021 Geistreichen*), wie dem Begeisterten zuspricht. Die Wahrheit pgo_089.022 ist, daß die Besonnenheit nur im Bunde mit der Begeisterung das pgo_089.023 Vollendete schafft. Sie ist die das Schaffen begleitende Kritik, welche pgo_089.024 aber bei dem Genie nicht äußerlich nebenhergeht, sondern in seiner dichterischen pgo_089.025 Anschauung von Hause aus mitgesetzt ist. Wenigstens wird der pgo_089.026 begeisterte Wurf des Großen und Ganzen aus den Händen des Genies pgo_089.027 mit jener inneren Wahrheit und Folgerichtigkeit gelingen, welche die nachfolgende pgo_089.028 Kritik nur anerkennen kann. Daß aber diese Besonnenheit in pgo_089.029 der Durcharbeitung des Einzelnen, der Verbesserung des Gefüges, der pgo_089.030 Feile der Form eine große Rolle spielt, ist gewiß nicht in Zweifel zu ziehen. pgo_089.031 Nur muß man auch hier nicht an eine isolirte Verstandesthätigkeit denken. pgo_089.032 Die Kritik kann z. B. ein dichterisches Wort beseitigen, das ihr matt, pgo_089.033 nicht geeignet, nicht schlagend genug erscheint; sie kann das richtige suchen,
*)pgo_089.034 Poet. 17 euphues.
pgo_089.001 und Leidenschaftliches, aber nicht das Schöne hervorrufen! Wohl aber pgo_089.002 muß die Dichtung des Nüchternen stets vor der Dichtung des Begeisterten pgo_089.003 verschwinden, und Plato hat die hohe Bedeutung der „gesunden Manie,“ pgo_089.004 des begeisterten Heraustretens aus dem gewohnten Gleise, nach Gebühr pgo_089.005 gewürdigt. Jn seinem „Jon“ läßt er den Sokrates sagen: „Alle wahren pgo_089.006 Epiker, wie alle wahren Lyriker, bringen nicht durch Kunst, nur durch pgo_089.007 Begeisterung alle die schönen Gedichte hervor. Und wie die korybantischen pgo_089.008 Tänzer nicht in bewußtem Zustande tanzen, so dichten auch die Lyriker pgo_089.009 ihre schönen Lieder nicht bewußt, sondern sind toll, wenn sie in Ton pgo_089.010 und Tact hineingerathen. Und wie die Bacchantinnen in ihrem Rausch pgo_089.011 aus Bächen Milch und Honig schöpfen, aber nicht, wenn sie bewußt sind: pgo_089.012 so thut auch der Geist der Lyriker das, was sie selbst sagen: denn sie versichern pgo_089.013 uns ja, daß sie von Honigbächen aus Gärten und Auen der Musen pgo_089.014 ihre Lieder, umherfliegend gleich den Bienen, pflücken und uns darbringen. pgo_089.015 Und sie haben Recht: denn der Dichter ist ein leichtgeflügeltes, pgo_089.016 geweihtes Wesen und nicht eher zum Dichten fähig, als bis er begeistert, pgo_089.017 unbewußt und von Sinnen ist.“
pgo_089.018 Wenn der göttliche Plato den Hauptnachdruck auf die Begeisterung pgo_089.019 legt: so stellt schon der schärfere Aristoteles ihr die Besonnenheit als gleichberechtigt pgo_089.020 zur Seite, indem er die Gabe der Dichtkunst ebenso dem Feinfühligen, pgo_089.021 Geistreichen*), wie dem Begeisterten zuspricht. Die Wahrheit pgo_089.022 ist, daß die Besonnenheit nur im Bunde mit der Begeisterung das pgo_089.023 Vollendete schafft. Sie ist die das Schaffen begleitende Kritik, welche pgo_089.024 aber bei dem Genie nicht äußerlich nebenhergeht, sondern in seiner dichterischen pgo_089.025 Anschauung von Hause aus mitgesetzt ist. Wenigstens wird der pgo_089.026 begeisterte Wurf des Großen und Ganzen aus den Händen des Genies pgo_089.027 mit jener inneren Wahrheit und Folgerichtigkeit gelingen, welche die nachfolgende pgo_089.028 Kritik nur anerkennen kann. Daß aber diese Besonnenheit in pgo_089.029 der Durcharbeitung des Einzelnen, der Verbesserung des Gefüges, der pgo_089.030 Feile der Form eine große Rolle spielt, ist gewiß nicht in Zweifel zu ziehen. pgo_089.031 Nur muß man auch hier nicht an eine isolirte Verstandesthätigkeit denken. pgo_089.032 Die Kritik kann z. B. ein dichterisches Wort beseitigen, das ihr matt, pgo_089.033 nicht geeignet, nicht schlagend genug erscheint; sie kann das richtige suchen,
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/111>, abgerufen am 25.11.2024.
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