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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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nicht blos die Dinge, sie schaut das Schöne! Und sie schafft es, indem pgo_086.002
sie es schaut. Der dichterische Schöpfungsproceß ist ein Act der Phantasie! pgo_086.003
Was an ihm geheimnißvoll erscheint, das beruht auf dem eigenthümlichen pgo_086.004
Wesen des Schönen, wie es sich in der Welt der Seele spiegelt. pgo_086.005
Das Schöne tritt fertig als Object, mit der Unmittelbarkeit des sinnlichen pgo_086.006
Dinges vor uns hin; es berührt uns mit dem ganzen frischen Reize der pgo_086.007
Natur und ist doch ungetrübte Jdee zugleich! Dieser frische Reiz der pgo_086.008
Natur, dieser Zauber des Unmittelbaren und Ursprünglichen begleitet pgo_086.009
auch die schaffende Phantasie und zeigt sich hier sowohl als natürliche pgo_086.010
Begabung, als eine dem Einzelnen gewährte Gunst, wie auch als pgo_086.011
begeisterte Eingebung, der eine unsichtbare Macht in die Feder zu dictiren pgo_086.012
scheint!

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Um das dichterische Schaffen zu begreifen, kehren wir noch einmal pgo_086.014
zur träumenden Einbildungskraft zurück. Der Traum ist ein Gedicht pgo_086.015
der Ganglien, an welchem das Gehirn nur wenig mitarbeitet. Was ihn pgo_086.016
als Gedicht erscheinen läßt, das ist nicht die willkürliche Verknüpfung der pgo_086.017
Bilder; sondern das vollkommene Aufgehn des Träumenden in seiner pgo_086.018
geträumten Welt. Die Personen, die der Traum hinzaubert, haben pgo_086.019
Fleisch und Blut, Form und Farbe und fallen nicht aus der Rolle. Nur pgo_086.020
selten unterbricht der Träumende, wie ein reflectirender Dichter, die pgo_086.021
objective Welt, die er schafft, und in welche er sich mit allen seinen Sinnen, pgo_086.022
seinem Empfinden und Denken, seinem vollsten Glauben versenkt. Es pgo_086.023
träumt z. B. Jemand von der Angst vor einem Examen und während pgo_086.024
desselben, das er schon längst gemacht hat. Mitten in diese zagend pgo_086.025
empfundene Angst schleicht sich leise aufdämmernd der Gedanke: aber pgo_086.026
wie ist es möglich, daß du dies Examen noch einmal machen mußt, du pgo_086.027
hast es ja schon gemacht -- ein Gedanke, mit welchem das bewußte pgo_086.028
Gehirn die Dichtversuche der Ganglien corrigirt und ihnen den Vorwurf pgo_086.029
der Verletzung der historischen Treue macht; aber die dichtenden Ganglien pgo_086.030
lassen sich durch diese subjective Reflexion nicht unterbrechen, das Gehirn pgo_086.031
mit seinen schüchternen Einwürfen verharrt in seiner dienenden Stellung; pgo_086.032
jene fahren fort, über den Delinquenten den ganzen Angstschweiß einer pgo_086.033
mit folternder Genauigkeit ausgeführten Prüfung zu verhängen. So pgo_086.034
groß ist die Objectivität des Traums, daß er in dieser Hinsicht dem Dichter pgo_086.035
zum Muster dienen könnte. Dagegen ist der Traum nachlässig bis

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nicht blos die Dinge, sie schaut das Schöne! Und sie schafft es, indem pgo_086.002
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Um das dichterische Schaffen zu begreifen, kehren wir noch einmal pgo_086.014
zur träumenden Einbildungskraft zurück. Der Traum ist ein Gedicht pgo_086.015
der Ganglien, an welchem das Gehirn nur wenig mitarbeitet. Was ihn pgo_086.016
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Bilder; sondern das vollkommene Aufgehn des Träumenden in seiner pgo_086.018
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/108>, abgerufen am 06.05.2024.