pgo_085.001 Romanen dieser raffinirten Romantik Rechnung trug, wird noch pgo_085.002 gegenwärtig häufig zu romanhaften Ueberraschungen angewendet. Doch pgo_085.003 schon unsere großen Dichter sahen sich genöthigt, dem effectvollen Wunder pgo_085.004 die nüchterne Aufklärung folgen zu lassen, die in ihrer äußerlichen pgo_085.005 Weise an die rationalistischen Auslegungen der Bibelwunder erinnerte. pgo_085.006 Auch hier gilt unser Satz: das Wunder hat für den modernen Dichter pgo_085.007 nur eine psychologische Bedeutung! Wozu noch eine poetische Geisterklopferei, pgo_085.008 da die Welt der Seele und des Geistes der Wunder genug hat, pgo_085.009 zu denen dem Dichter vor allen andern Sterblichen der Schlüssel verliehen pgo_085.010 ist?
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Zweiter Abschnitt.
pgo_085.012 Die productive Phantasie.
pgo_085.013 Die unerschöpfliche Stoffwelt, deren Reichthum wir im vorigen pgo_085.014 Abschnitt angedeutet, ist das große Reservoir, aus welchem der menschlichen pgo_085.015 Einbildungskraft Bilder und Erinnerungen zuströmen. Jn pgo_085.016 der Einbildungskraft spiegelt sich indeß das Naturschöne mit seiner ganzen pgo_085.017 trüben Zufälligkeit, in stoffartiger Weise -- sie ist die menschliche pgo_085.018 Seele als Erinnerung der Welt. Deshalb würde das Naturschöne vergeblich pgo_085.019 der Wiedergeburt zum Jdeal harren, wenn die Einbildungskraft pgo_085.020 das einzige ästhetische Organ des Menschen wäre. Doch hier tritt eine pgo_085.021 höhere Kraft der Seele ein, die Phantasie als die Kraft der reinen pgo_085.022 Anschauung, welche in höherer Potenz zur Kraft der künstlerischen pgo_085.023 Gestaltung wird. Wohl schöpft sie mit der Einbildungskraft aus dem pgo_085.024 Quelle der äußern Welt, aber sie schöpft auch aus dem Reiche der Jdeeen, pgo_085.025 die sie in diese Welt hineinschaut. Die Einbildungskraft träumt; die pgo_085.026 Phantasie dichtet. Auch die Einbildungskraft schiebt die Farben und pgo_085.027 Formen der Welt zu kaleidoskopischen Bildern zusammen und auseinander; pgo_085.028 aber ihr Spiel ist ein zufälliges und ihr Gebilde ungeläutert, ein pgo_085.029 Zusammensetzspiel mit gegebenen Steinen, mit ausgeschnittenen Theilen. pgo_085.030 Erst die Phantasie bringt zu diesen Erinnerungen der äußern Welt die pgo_085.031 platonischen Erinnerungen aus der Welt der Jdeeen hinzu, durch welche pgo_085.032 sie fähig wird, jene zu läutern und zu gestalten. Die Phantasie schaut
pgo_085.001 Romanen dieser raffinirten Romantik Rechnung trug, wird noch pgo_085.002 gegenwärtig häufig zu romanhaften Ueberraschungen angewendet. Doch pgo_085.003 schon unsere großen Dichter sahen sich genöthigt, dem effectvollen Wunder pgo_085.004 die nüchterne Aufklärung folgen zu lassen, die in ihrer äußerlichen pgo_085.005 Weise an die rationalistischen Auslegungen der Bibelwunder erinnerte. pgo_085.006 Auch hier gilt unser Satz: das Wunder hat für den modernen Dichter pgo_085.007 nur eine psychologische Bedeutung! Wozu noch eine poetische Geisterklopferei, pgo_085.008 da die Welt der Seele und des Geistes der Wunder genug hat, pgo_085.009 zu denen dem Dichter vor allen andern Sterblichen der Schlüssel verliehen pgo_085.010 ist?
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/107>, abgerufen am 24.11.2024.
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