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Gotthelf, Jeremias: Bilder und Sagen aus der Schweiz. Bdch. 1. Die schwarze Spinne. - Ritter von Brandis - Das gelbe Vögelein und das arme Margrithli. Solothurn, 1842.

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dem brennenden Fleck, auf dem ihr eine giftige Wespe
zu sitzen schien, die ihr einen glühenden Stachel bohre
bis ins Mark hinein. Als keine Wespe zu verjagen
war, die Stiche immer heißer wurden, die Gedanken
immer schrecklicher, da begann Christine ihre Wange zu
zeigen, zu fragen, was darauf zu sehen sei, und immer
von Neuem frug Christine, aber Niemand sah etwas,
und bald mochte Niemand mehr mit dem Spähen auf
den Wangen die Lust sich kürzen. Endlich konnte
sie noch ein altes Weib erbitten; eben krähte der Hahn,
der Morgen graute, da sah die Alte auf Christinens
Wange einen fast unsichtbaren Fleck. Es sei nichts,
sagte die Alte, das werde schon vergehen, und ging
weiter.

"Und Christine wollte sich trösten, es sei nichts und
werde bald vergehen; aber die Pein nahm nicht ab und
unmerklich wuchs der kleine Punkt und alle sahen ihn
und frugen sie: was es da schwarzes gebe in ihrem
Gesichte? Sie dachten nichts besonders, aber die Re¬
den fuhren ihr wie Stiche ins Herz, weckten die schwe¬
ren Gedanken wieder auf, und immer und immer mußte
sie denken, daß auf den gleichen Fleck der Grüne sie
geküßt, und daß die gleiche Glut, die damals wie ein
Blitz durch ihr Gebein gefahren, jetzt bleibend in dem¬
selben brenne und zehre. So wich der Schlaf von ihr,
das Essen schmeckte ihr wie Feuerbrand, unstät lief sie
hiehin, dorthin, suchte Trost und fand keinen, denn
der Schmerz wuchs immer noch, und der schwarze
Punkt ward größer und schwärzer; einzelne dunkle
Streifen liefen von ihm aus, und nach dem Munde hin
schien sich auf dem runden Flecke ein Höcker zu pflanzen.

"So litt und lief Christine manchen langen Tag und
manche lange Nacht, und hatte keinem Menschen die

dem brennenden Fleck, auf dem ihr eine giftige Wespe
zu ſitzen ſchien, die ihr einen glühenden Stachel bohre
bis ins Mark hinein. Als keine Wespe zu verjagen
war, die Stiche immer heißer wurden, die Gedanken
immer ſchrecklicher, da begann Chriſtine ihre Wange zu
zeigen, zu fragen, was darauf zu ſehen ſei, und immer
von Neuem frug Chriſtine, aber Niemand ſah etwas,
und bald mochte Niemand mehr mit dem Spähen auf
den Wangen die Luſt ſich kürzen. Endlich konnte
ſie noch ein altes Weib erbitten; eben krähte der Hahn,
der Morgen graute, da ſah die Alte auf Chriſtinens
Wange einen faſt unſichtbaren Fleck. Es ſei nichts,
ſagte die Alte, das werde ſchon vergehen, und ging
weiter.

„Und Chriſtine wollte ſich tröſten, es ſei nichts und
werde bald vergehen; aber die Pein nahm nicht ab und
unmerklich wuchs der kleine Punkt und alle ſahen ihn
und frugen ſie: was es da ſchwarzes gebe in ihrem
Geſichte? Sie dachten nichts beſonders, aber die Re¬
den fuhren ihr wie Stiche ins Herz, weckten die ſchwe¬
ren Gedanken wieder auf, und immer und immer mußte
ſie denken, daß auf den gleichen Fleck der Grüne ſie
geküßt, und daß die gleiche Glut, die damals wie ein
Blitz durch ihr Gebein gefahren, jetzt bleibend in dem¬
ſelben brenne und zehre. So wich der Schlaf von ihr,
das Eſſen ſchmeckte ihr wie Feuerbrand, unſtät lief ſie
hiehin, dorthin, ſuchte Troſt und fand keinen, denn
der Schmerz wuchs immer noch, und der ſchwarze
Punkt ward größer und ſchwärzer; einzelne dunkle
Streifen liefen von ihm aus, und nach dem Munde hin
ſchien ſich auf dem runden Flecke ein Höcker zu pflanzen.

„So litt und lief Chriſtine manchen langen Tag und
manche lange Nacht, und hatte keinem Menſchen die

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[55/0065] dem brennenden Fleck, auf dem ihr eine giftige Wespe zu ſitzen ſchien, die ihr einen glühenden Stachel bohre bis ins Mark hinein. Als keine Wespe zu verjagen war, die Stiche immer heißer wurden, die Gedanken immer ſchrecklicher, da begann Chriſtine ihre Wange zu zeigen, zu fragen, was darauf zu ſehen ſei, und immer von Neuem frug Chriſtine, aber Niemand ſah etwas, und bald mochte Niemand mehr mit dem Spähen auf den Wangen die Luſt ſich kürzen. Endlich konnte ſie noch ein altes Weib erbitten; eben krähte der Hahn, der Morgen graute, da ſah die Alte auf Chriſtinens Wange einen faſt unſichtbaren Fleck. Es ſei nichts, ſagte die Alte, das werde ſchon vergehen, und ging weiter. „Und Chriſtine wollte ſich tröſten, es ſei nichts und werde bald vergehen; aber die Pein nahm nicht ab und unmerklich wuchs der kleine Punkt und alle ſahen ihn und frugen ſie: was es da ſchwarzes gebe in ihrem Geſichte? Sie dachten nichts beſonders, aber die Re¬ den fuhren ihr wie Stiche ins Herz, weckten die ſchwe¬ ren Gedanken wieder auf, und immer und immer mußte ſie denken, daß auf den gleichen Fleck der Grüne ſie geküßt, und daß die gleiche Glut, die damals wie ein Blitz durch ihr Gebein gefahren, jetzt bleibend in dem¬ ſelben brenne und zehre. So wich der Schlaf von ihr, das Eſſen ſchmeckte ihr wie Feuerbrand, unſtät lief ſie hiehin, dorthin, ſuchte Troſt und fand keinen, denn der Schmerz wuchs immer noch, und der ſchwarze Punkt ward größer und ſchwärzer; einzelne dunkle Streifen liefen von ihm aus, und nach dem Munde hin ſchien ſich auf dem runden Flecke ein Höcker zu pflanzen. „So litt und lief Chriſtine manchen langen Tag und manche lange Nacht, und hatte keinem Menſchen die

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Zitationshilfe: Gotthelf, Jeremias: Bilder und Sagen aus der Schweiz. Bdch. 1. Die schwarze Spinne. - Ritter von Brandis - Das gelbe Vögelein und das arme Margrithli. Solothurn, 1842, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gotthelf_sagen_1842/65>, abgerufen am 22.11.2024.