Goldammer, Leo: Eine Hochzeitsnacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [187]–203. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.rief er laut, und zu Urten gewendet, fragte er flüsternd, als hätte er ihre Frage nicht verstanden: Der Christoph ist fort? Ja, Vater! Er wollte bald zurück sein; er wollte etwas thun, das uns Glück bringen solle; das sagte er zum Abschied -- aber er kommt nicht zurück! Ich passe! rief der alte Lagies zu seinen Gevattern, legte die Karten auf den Tisch und stand auf. Urte, meine Tochter, wo ist der Michael? Der ist auch fort, Vater, der ist auch nicht zu sehen! Der alte Mann preßte die Hand an die Stirn, und ein tiefes Stöhnen entfuhr seiner Brust. Es kam ihm an wie ein Schwindel, er mußte sich gegen die Thürpfoste lehnen. Urte legte ihren Arm um seinen Nacken und rief ängstlich: Was ist Euch? Was ist Euch? Ihr macht mir Bange! Diese Ausrufe und das Benehmen des Alten brachten die ganze Gesellschaft in Aufruhr. Viele hatten ihn taumeln gesehen, Alle sahen ihn jetzt ein Bild des Schreckens und Jammers in den Mienen und bedrängten ihn mit Fragen. Der aber hörte und sah nicht, seine Augen waren an den Boden geheftet. Endlich richtete er den Kopf in die Höhe, preßte sein Weib in seine Arme und rief in einem Tone, der nicht ganz mit dem Sinn seiner Worte im Einklang stand: Es ist nicht möglich, Mutter, es nicht möglich! Du hast sie mir Beide geboren, du hast sie -- nein, es nicht möglich, daß Einer dem Andern einen Schaden thun könne! rief er laut, und zu Urten gewendet, fragte er flüsternd, als hätte er ihre Frage nicht verstanden: Der Christoph ist fort? Ja, Vater! Er wollte bald zurück sein; er wollte etwas thun, das uns Glück bringen solle; das sagte er zum Abschied — aber er kommt nicht zurück! Ich passe! rief der alte Lagies zu seinen Gevattern, legte die Karten auf den Tisch und stand auf. Urte, meine Tochter, wo ist der Michael? Der ist auch fort, Vater, der ist auch nicht zu sehen! Der alte Mann preßte die Hand an die Stirn, und ein tiefes Stöhnen entfuhr seiner Brust. Es kam ihm an wie ein Schwindel, er mußte sich gegen die Thürpfoste lehnen. Urte legte ihren Arm um seinen Nacken und rief ängstlich: Was ist Euch? Was ist Euch? Ihr macht mir Bange! Diese Ausrufe und das Benehmen des Alten brachten die ganze Gesellschaft in Aufruhr. Viele hatten ihn taumeln gesehen, Alle sahen ihn jetzt ein Bild des Schreckens und Jammers in den Mienen und bedrängten ihn mit Fragen. Der aber hörte und sah nicht, seine Augen waren an den Boden geheftet. Endlich richtete er den Kopf in die Höhe, preßte sein Weib in seine Arme und rief in einem Tone, der nicht ganz mit dem Sinn seiner Worte im Einklang stand: Es ist nicht möglich, Mutter, es nicht möglich! Du hast sie mir Beide geboren, du hast sie — nein, es nicht möglich, daß Einer dem Andern einen Schaden thun könne! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0017"/> rief er laut, und zu Urten gewendet, fragte er flüsternd, als hätte er ihre Frage nicht verstanden: Der Christoph ist fort?</p><lb/> <p>Ja, Vater! Er wollte bald zurück sein; er wollte etwas thun, das uns Glück bringen solle; das sagte er zum Abschied — aber er kommt nicht zurück!</p><lb/> <p>Ich passe! rief der alte Lagies zu seinen Gevattern, legte die Karten auf den Tisch und stand auf.</p><lb/> <p>Urte, meine Tochter, wo ist der Michael?</p><lb/> <p>Der ist auch fort, Vater, der ist auch nicht zu sehen!</p><lb/> <p>Der alte Mann preßte die Hand an die Stirn, und ein tiefes Stöhnen entfuhr seiner Brust. Es kam ihm an wie ein Schwindel, er mußte sich gegen die Thürpfoste lehnen. Urte legte ihren Arm um seinen Nacken und rief ängstlich: Was ist Euch? Was ist Euch? Ihr macht mir Bange!</p><lb/> <p>Diese Ausrufe und das Benehmen des Alten brachten die ganze Gesellschaft in Aufruhr. Viele hatten ihn taumeln gesehen, Alle sahen ihn jetzt ein Bild des Schreckens und Jammers in den Mienen und bedrängten ihn mit Fragen. Der aber hörte und sah nicht, seine Augen waren an den Boden geheftet. Endlich richtete er den Kopf in die Höhe, preßte sein Weib in seine Arme und rief in einem Tone, der nicht ganz mit dem Sinn seiner Worte im Einklang stand: Es ist nicht möglich, Mutter, es nicht möglich! Du hast sie mir Beide geboren, du hast sie — nein, es nicht möglich, daß Einer dem Andern einen Schaden thun könne!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
rief er laut, und zu Urten gewendet, fragte er flüsternd, als hätte er ihre Frage nicht verstanden: Der Christoph ist fort?
Ja, Vater! Er wollte bald zurück sein; er wollte etwas thun, das uns Glück bringen solle; das sagte er zum Abschied — aber er kommt nicht zurück!
Ich passe! rief der alte Lagies zu seinen Gevattern, legte die Karten auf den Tisch und stand auf.
Urte, meine Tochter, wo ist der Michael?
Der ist auch fort, Vater, der ist auch nicht zu sehen!
Der alte Mann preßte die Hand an die Stirn, und ein tiefes Stöhnen entfuhr seiner Brust. Es kam ihm an wie ein Schwindel, er mußte sich gegen die Thürpfoste lehnen. Urte legte ihren Arm um seinen Nacken und rief ängstlich: Was ist Euch? Was ist Euch? Ihr macht mir Bange!
Diese Ausrufe und das Benehmen des Alten brachten die ganze Gesellschaft in Aufruhr. Viele hatten ihn taumeln gesehen, Alle sahen ihn jetzt ein Bild des Schreckens und Jammers in den Mienen und bedrängten ihn mit Fragen. Der aber hörte und sah nicht, seine Augen waren an den Boden geheftet. Endlich richtete er den Kopf in die Höhe, preßte sein Weib in seine Arme und rief in einem Tone, der nicht ganz mit dem Sinn seiner Worte im Einklang stand: Es ist nicht möglich, Mutter, es nicht möglich! Du hast sie mir Beide geboren, du hast sie — nein, es nicht möglich, daß Einer dem Andern einen Schaden thun könne!
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-14T15:53:03Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-14T15:53:03Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |