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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Volke, herumziehe, hab' ich keinen Augenblik ge-
habt, keinen, an dem mein Herz mich geheissen
hätte Jhnen zu schreiben. Und jezt in dieser Hüt-
te, in dieser Einsamkeit, in dieser Einschränkung,
da Schnee und Schlossen wider mein Fenstergen
wüthen, hier waren Sie mein erster Gedanke. Wie
ich herein trat, überfiel mich Jhre Gestalt, Jhr An-
denken. O Lotte! so heilig, so warm! Guter
Gott! der erste glükliche Augenblik wieder.

Wenn Sie mich sähen meine Beste, in dem
Schwall von Zerstreuung! Wie ausgetroknet mei-
ne Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fül-
le des Herzens, nicht Eine selige thränenreiche Stun-
de. Nichts! Nichts! Jch stehe wie vor einem
Raritätenkasten, und sehe die Männgen und Gäul-
gen vor mir herumrükken, und frage mich oft, ob's
nicht optischer Betrug ist. Jch spiele mit, viel-
mehr, ich werde gespielt wie eine Marionette, und
fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen
Hand und schaudere zurük.

Ein einzig weiblich Geschöpf hab ich hier
gefunden. Eine Fräulein von B.. Sie gleicht
Jhnen liebe Lotte, wenn man Jhnen gleichen kann.

Ey!



Volke, herumziehe, hab’ ich keinen Augenblik ge-
habt, keinen, an dem mein Herz mich geheiſſen
haͤtte Jhnen zu ſchreiben. Und jezt in dieſer Huͤt-
te, in dieſer Einſamkeit, in dieſer Einſchraͤnkung,
da Schnee und Schloſſen wider mein Fenſtergen
wuͤthen, hier waren Sie mein erſter Gedanke. Wie
ich herein trat, uͤberfiel mich Jhre Geſtalt, Jhr An-
denken. O Lotte! ſo heilig, ſo warm! Guter
Gott! der erſte gluͤkliche Augenblik wieder.

Wenn Sie mich ſaͤhen meine Beſte, in dem
Schwall von Zerſtreuung! Wie ausgetroknet mei-
ne Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fuͤl-
le des Herzens, nicht Eine ſelige thraͤnenreiche Stun-
de. Nichts! Nichts! Jch ſtehe wie vor einem
Raritaͤtenkaſten, und ſehe die Maͤnngen und Gaͤul-
gen vor mir herumruͤkken, und frage mich oft, ob’s
nicht optiſcher Betrug iſt. Jch ſpiele mit, viel-
mehr, ich werde geſpielt wie eine Marionette, und
faſſe manchmal meinen Nachbar an der hoͤlzernen
Hand und ſchaudere zuruͤk.

Ein einzig weiblich Geſchoͤpf hab ich hier
gefunden. Eine Fraͤulein von B.. Sie gleicht
Jhnen liebe Lotte, wenn man Jhnen gleichen kann.

Ey!
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[125/0013] Volke, herumziehe, hab’ ich keinen Augenblik ge- habt, keinen, an dem mein Herz mich geheiſſen haͤtte Jhnen zu ſchreiben. Und jezt in dieſer Huͤt- te, in dieſer Einſamkeit, in dieſer Einſchraͤnkung, da Schnee und Schloſſen wider mein Fenſtergen wuͤthen, hier waren Sie mein erſter Gedanke. Wie ich herein trat, uͤberfiel mich Jhre Geſtalt, Jhr An- denken. O Lotte! ſo heilig, ſo warm! Guter Gott! der erſte gluͤkliche Augenblik wieder. Wenn Sie mich ſaͤhen meine Beſte, in dem Schwall von Zerſtreuung! Wie ausgetroknet mei- ne Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fuͤl- le des Herzens, nicht Eine ſelige thraͤnenreiche Stun- de. Nichts! Nichts! Jch ſtehe wie vor einem Raritaͤtenkaſten, und ſehe die Maͤnngen und Gaͤul- gen vor mir herumruͤkken, und frage mich oft, ob’s nicht optiſcher Betrug iſt. Jch ſpiele mit, viel- mehr, ich werde geſpielt wie eine Marionette, und faſſe manchmal meinen Nachbar an der hoͤlzernen Hand und ſchaudere zuruͤk. Ein einzig weiblich Geſchoͤpf hab ich hier gefunden. Eine Fraͤulein von B.. Sie gleicht Jhnen liebe Lotte, wenn man Jhnen gleichen kann. Ey!

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/13>, abgerufen am 02.05.2024.