Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.ner wonnevollen Stunde, sich in den unaufhaltsa- men Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütigen Pedanten, lassen sich rühren, und halten ihre Strafe zurük. Das ist ganz was anders, versezte Albert, weil Aber
ner wonnevollen Stunde, ſich in den unaufhaltſa- men Freuden der Liebe verliert? Unſere Geſetze ſelbſt, dieſe kaltbluͤtigen Pedanten, laſſen ſich ruͤhren, und halten ihre Strafe zuruͤk. Das iſt ganz was anders, verſezte Albert, weil Aber
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ner wonnevollen Stunde, ſich in den unaufhaltſa-
men Freuden der Liebe verliert? Unſere Geſetze
ſelbſt, dieſe kaltbluͤtigen Pedanten, laſſen ſich ruͤhren,
und halten ihre Strafe zuruͤk.
Das iſt ganz was anders, verſezte Albert, weil
ein Menſch, den ſeine Leidenſchaften hinreiſſen, alle
Beſinnungskraft verliert, und als ein Trunkener,
als ein Wahnſinniger angeſehen wird. — Ach
ihr vernuͤnftigen Leute! rief ich laͤchelnd aus. Lei-
denſchaft! Trunkenheit! Wahnſinn! Jhr ſteht ſo
gelaſſen, ſo ohne Theilnehmung da, ihr ſittlichen
Menſchen, ſcheltet den Trinker, verabſcheuet den Un-
ſinnigen, geht vorbey wie der Prieſter, und dankt
Gott wie der Phariſaͤer, daß er euch nicht ge-
macht hat, wie einen von dieſen. Jch bin mehr
als einmal trunken geweſen, und meine Leiden-
ſchaften waren nie weit vom Wahnſinne, und bey-
des reut mich nicht, denn ich habe in meinem
Maaſſe begreifen lernen: Wie man alle auſſer-
ordentliche Menſchen, die etwas groſſes, etwas un-
moͤglich ſcheinendes wuͤrkten, von jeher fuͤr Trunke-
ne und Wahnſinnige ausſchreien muͤßte.
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/82>, abgerufen am 21.07.2024. |