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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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der um so viel frappanter war, weil uns rings eine
tiefe Dämmerung einschloß. Wir waren still, und
sie fieng nach einer Weile an: Niemals geh ich im
Mondenlichte spazieren, niemals daß mir nicht der
Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, daß
nicht das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich
käme. Wir werden seyn, fuhr sie mit der Stimme
des herrlichsten Gefühls fort, aber Werther, sol-
len wir uns wieder finden? und wieder erkennen?
Was ahnden sie, was sagen sie?

Lotte, sagt ich, indem ich ihr die Hand reichte
und mir die Augen voll Thränen wurden, wir wer-
den uns wieder sehn! Hier und dort wieder
sehn! -- Jch konnte nicht weiter reden -- Wil-
helm, mußte sie mich das fragen? da ich diesen
ängstlichen Abschied im Herzen hatte.

Und ob die lieben Abgeschiednen von uns wis-
sen, fuhr sie fort, ob sie fühlen, wann's uns wohl
geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer erin-
nern? O die Gestalt meiner Mutter schwebt im-

mer



der um ſo viel frappanter war, weil uns rings eine
tiefe Daͤmmerung einſchloß. Wir waren ſtill, und
ſie fieng nach einer Weile an: Niemals geh ich im
Mondenlichte ſpazieren, niemals daß mir nicht der
Gedanke an meine Verſtorbenen begegnete, daß
nicht das Gefuͤhl von Tod, von Zukunft uͤber mich
kaͤme. Wir werden ſeyn, fuhr ſie mit der Stimme
des herrlichſten Gefuͤhls fort, aber Werther, ſol-
len wir uns wieder finden? und wieder erkennen?
Was ahnden ſie, was ſagen ſie?

Lotte, ſagt ich, indem ich ihr die Hand reichte
und mir die Augen voll Thraͤnen wurden, wir wer-
den uns wieder ſehn! Hier und dort wieder
ſehn! — Jch konnte nicht weiter reden — Wil-
helm, mußte ſie mich das fragen? da ich dieſen
aͤngſtlichen Abſchied im Herzen hatte.

Und ob die lieben Abgeſchiednen von uns wiſ-
ſen, fuhr ſie fort, ob ſie fuͤhlen, wann’s uns wohl
geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer erin-
nern? O die Geſtalt meiner Mutter ſchwebt im-

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[106/0106] der um ſo viel frappanter war, weil uns rings eine tiefe Daͤmmerung einſchloß. Wir waren ſtill, und ſie fieng nach einer Weile an: Niemals geh ich im Mondenlichte ſpazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine Verſtorbenen begegnete, daß nicht das Gefuͤhl von Tod, von Zukunft uͤber mich kaͤme. Wir werden ſeyn, fuhr ſie mit der Stimme des herrlichſten Gefuͤhls fort, aber Werther, ſol- len wir uns wieder finden? und wieder erkennen? Was ahnden ſie, was ſagen ſie? Lotte, ſagt ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen voll Thraͤnen wurden, wir wer- den uns wieder ſehn! Hier und dort wieder ſehn! — Jch konnte nicht weiter reden — Wil- helm, mußte ſie mich das fragen? da ich dieſen aͤngſtlichen Abſchied im Herzen hatte. Und ob die lieben Abgeſchiednen von uns wiſ- ſen, fuhr ſie fort, ob ſie fuͤhlen, wann’s uns wohl geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer erin- nern? O die Geſtalt meiner Mutter ſchwebt im- mer

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/106>, abgerufen am 08.05.2024.