Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

zu rauben drohte. Zuletzt munterte sie ihn
auf, mit der linken Hand zu schreiben: er
mußte alle seine Versuche an sie richten, und
so stand sie, entfernt oder nah, immer mit
ihm in Verhältniß. Der junge Mann wußte
nicht wie ihm geworden war, und wirklich
fing er von diesem Augenblick ein neues Le¬
ben an.

Vielleicht sollte man denken, ein solches
Betragen wäre dem Bräutigam mißfällig ge¬
wesen; allein es fand sich das Gegentheil.
Er rechnete ihr diese Bemühungen zu großem
Verdienst an, und war um so mehr darüber
ganz ruhig, als er ihre fast übertriebenen
Eigenheiten kannte, wodurch sie alles was
im mindesten verfänglich schien, von sich ab¬
zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann
nach Belieben umspringen, Jeder war in
Gefahr, von ihr einmal angestoßen, gezerrt
oder sonst geneckt zu werden; Niemand aber
durfte sich gegen sie ein Gleiches erlauben,

zu rauben drohte. Zuletzt munterte ſie ihn
auf, mit der linken Hand zu ſchreiben: er
mußte alle ſeine Verſuche an ſie richten, und
ſo ſtand ſie, entfernt oder nah, immer mit
ihm in Verhaͤltniß. Der junge Mann wußte
nicht wie ihm geworden war, und wirklich
fing er von dieſem Augenblick ein neues Le¬
ben an.

Vielleicht ſollte man denken, ein ſolches
Betragen waͤre dem Braͤutigam mißfaͤllig ge¬
weſen; allein es fand ſich das Gegentheil.
Er rechnete ihr dieſe Bemuͤhungen zu großem
Verdienſt an, und war um ſo mehr daruͤber
ganz ruhig, als er ihre faſt uͤbertriebenen
Eigenheiten kannte, wodurch ſie alles was
im mindeſten verfaͤnglich ſchien, von ſich ab¬
zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann
nach Belieben umſpringen, Jeder war in
Gefahr, von ihr einmal angeſtoßen, gezerrt
oder ſonſt geneckt zu werden; Niemand aber
durfte ſich gegen ſie ein Gleiches erlauben,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0077" n="74"/>
zu rauben drohte. Zuletzt munterte &#x017F;ie ihn<lb/>
auf, mit der linken Hand zu &#x017F;chreiben: er<lb/>
mußte alle &#x017F;eine Ver&#x017F;uche an &#x017F;ie richten, und<lb/>
&#x017F;o &#x017F;tand &#x017F;ie, entfernt oder nah, immer mit<lb/>
ihm in Verha&#x0364;ltniß. Der junge Mann wußte<lb/>
nicht wie ihm geworden war, und wirklich<lb/>
fing er von die&#x017F;em Augenblick ein neues Le¬<lb/>
ben an.</p><lb/>
        <p>Vielleicht &#x017F;ollte man denken, ein &#x017F;olches<lb/>
Betragen wa&#x0364;re dem Bra&#x0364;utigam mißfa&#x0364;llig ge¬<lb/>
we&#x017F;en; allein es fand &#x017F;ich das Gegentheil.<lb/>
Er rechnete ihr die&#x017F;e Bemu&#x0364;hungen zu großem<lb/>
Verdien&#x017F;t an, und war um &#x017F;o mehr daru&#x0364;ber<lb/>
ganz ruhig, als er ihre fa&#x017F;t u&#x0364;bertriebenen<lb/>
Eigenheiten kannte, wodurch &#x017F;ie alles was<lb/>
im minde&#x017F;ten verfa&#x0364;nglich &#x017F;chien, von &#x017F;ich ab¬<lb/>
zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann<lb/>
nach Belieben um&#x017F;pringen, Jeder war in<lb/>
Gefahr, von ihr einmal ange&#x017F;toßen, gezerrt<lb/>
oder &#x017F;on&#x017F;t geneckt zu werden; Niemand aber<lb/>
durfte &#x017F;ich gegen &#x017F;ie ein Gleiches erlauben,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0077] zu rauben drohte. Zuletzt munterte ſie ihn auf, mit der linken Hand zu ſchreiben: er mußte alle ſeine Verſuche an ſie richten, und ſo ſtand ſie, entfernt oder nah, immer mit ihm in Verhaͤltniß. Der junge Mann wußte nicht wie ihm geworden war, und wirklich fing er von dieſem Augenblick ein neues Le¬ ben an. Vielleicht ſollte man denken, ein ſolches Betragen waͤre dem Braͤutigam mißfaͤllig ge¬ weſen; allein es fand ſich das Gegentheil. Er rechnete ihr dieſe Bemuͤhungen zu großem Verdienſt an, und war um ſo mehr daruͤber ganz ruhig, als er ihre faſt uͤbertriebenen Eigenheiten kannte, wodurch ſie alles was im mindeſten verfaͤnglich ſchien, von ſich ab¬ zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann nach Belieben umſpringen, Jeder war in Gefahr, von ihr einmal angeſtoßen, gezerrt oder ſonſt geneckt zu werden; Niemand aber durfte ſich gegen ſie ein Gleiches erlauben,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/77
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/77>, abgerufen am 22.11.2024.