Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

Beym frühsten Morgen wurde sie im offnen
Sarge aus dem Schloß getragen und die auf¬
gehende Sonne röthete nochmals das himm¬
lische Gesicht. Die Begleitenden drängten sich
um die Träger, Niemand wollte vorausgehn,
Niemand folgen, Jedermann sie umgeben,
Jedermann noch zum letztenmale ihre Gegen¬
wart genießen. Knaben, Männer und Frauen,
keins blieb ungerührt. Untröstlich waren die
Mädchen, die ihren Verlust am unmittelbar¬
sten empfanden.

Nanny fehlte. Man hatte sie zurückge¬
halten oder vielmehr man hatte ihr den Tag
und die Stunde des Begräbnisses verheim¬
licht. Man bewachte sie bey ihren Aeltern
in einer Kammer, die nach dem Garten ging.
Als sie aber die Glocken läuten hörte, ward
sie nur allzubald inne was vorging, und da
ihre Wächterinn, aus Neugierde den Zug zu
sehen, sie verließ, entkam sie zum Fenster
hinaus auf einen Gang und von da, weil sie

Beym fruͤhſten Morgen wurde ſie im offnen
Sarge aus dem Schloß getragen und die auf¬
gehende Sonne roͤthete nochmals das himm¬
liſche Geſicht. Die Begleitenden draͤngten ſich
um die Traͤger, Niemand wollte vorausgehn,
Niemand folgen, Jedermann ſie umgeben,
Jedermann noch zum letztenmale ihre Gegen¬
wart genießen. Knaben, Maͤnner und Frauen,
keins blieb ungeruͤhrt. Untroͤſtlich waren die
Maͤdchen, die ihren Verluſt am unmittelbar¬
ſten empfanden.

Nanny fehlte. Man hatte ſie zuruͤckge¬
halten oder vielmehr man hatte ihr den Tag
und die Stunde des Begraͤbniſſes verheim¬
licht. Man bewachte ſie bey ihren Aeltern
in einer Kammer, die nach dem Garten ging.
Als ſie aber die Glocken laͤuten hoͤrte, ward
ſie nur allzubald inne was vorging, und da
ihre Waͤchterinn, aus Neugierde den Zug zu
ſehen, ſie verließ, entkam ſie zum Fenſter
hinaus auf einen Gang und von da, weil ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0330" n="327"/>
        <p>Beym fru&#x0364;h&#x017F;ten Morgen wurde &#x017F;ie im offnen<lb/>
Sarge aus dem Schloß getragen und die auf¬<lb/>
gehende Sonne ro&#x0364;thete nochmals das himm¬<lb/>
li&#x017F;che Ge&#x017F;icht. Die Begleitenden dra&#x0364;ngten &#x017F;ich<lb/>
um die Tra&#x0364;ger, Niemand wollte vorausgehn,<lb/>
Niemand folgen, Jedermann &#x017F;ie umgeben,<lb/>
Jedermann noch zum letztenmale ihre Gegen¬<lb/>
wart genießen. Knaben, Ma&#x0364;nner und Frauen,<lb/>
keins blieb ungeru&#x0364;hrt. Untro&#x0364;&#x017F;tlich waren die<lb/>
Ma&#x0364;dchen, die ihren Verlu&#x017F;t am unmittelbar¬<lb/>
&#x017F;ten empfanden.</p><lb/>
        <p>Nanny fehlte. Man hatte &#x017F;ie zuru&#x0364;ckge¬<lb/>
halten oder vielmehr man hatte ihr den Tag<lb/>
und die Stunde des Begra&#x0364;bni&#x017F;&#x017F;es verheim¬<lb/>
licht. Man bewachte &#x017F;ie bey ihren Aeltern<lb/>
in einer Kammer, die nach dem Garten ging.<lb/>
Als &#x017F;ie aber die Glocken la&#x0364;uten ho&#x0364;rte, ward<lb/>
&#x017F;ie nur allzubald inne was vorging, und da<lb/>
ihre Wa&#x0364;chterinn, aus Neugierde den Zug zu<lb/>
&#x017F;ehen, &#x017F;ie verließ, entkam &#x017F;ie zum Fen&#x017F;ter<lb/>
hinaus auf einen Gang und von da, weil &#x017F;ie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[327/0330] Beym fruͤhſten Morgen wurde ſie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen und die auf¬ gehende Sonne roͤthete nochmals das himm¬ liſche Geſicht. Die Begleitenden draͤngten ſich um die Traͤger, Niemand wollte vorausgehn, Niemand folgen, Jedermann ſie umgeben, Jedermann noch zum letztenmale ihre Gegen¬ wart genießen. Knaben, Maͤnner und Frauen, keins blieb ungeruͤhrt. Untroͤſtlich waren die Maͤdchen, die ihren Verluſt am unmittelbar¬ ſten empfanden. Nanny fehlte. Man hatte ſie zuruͤckge¬ halten oder vielmehr man hatte ihr den Tag und die Stunde des Begraͤbniſſes verheim¬ licht. Man bewachte ſie bey ihren Aeltern in einer Kammer, die nach dem Garten ging. Als ſie aber die Glocken laͤuten hoͤrte, ward ſie nur allzubald inne was vorging, und da ihre Waͤchterinn, aus Neugierde den Zug zu ſehen, ſie verließ, entkam ſie zum Fenſter hinaus auf einen Gang und von da, weil ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/330
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/330>, abgerufen am 07.05.2024.