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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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zu thun hat, und sinnt darüber nicht weiter
nach, als über alberne Streiche, die er aus
Müßiggang und langer Weile vornimmt.

Wie verdrießlich ist mir's oft, mit anzu¬
hören, wie man die Zehngebote in der Kin¬
derlehre wiederhohlen läßt. Das vierte ist
noch ein ganz hübsches vernünftiges gebieten¬
des Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren.
Wenn sich das die Kinder recht in den Sinn
schreiben, so haben sie den ganzen Tag daran
auszuüben. Nun aber das fünfte, was soll
man dazu sagen? Du sollst nicht tödten. Als
wenn irgend ein Mensch im mindesten Lust
hätte den andern todt zu schlagen! Man haßt
einen, man erzürnt sich, man übereilt sich
und in Gefolg von dem und manchem andern
kann es wohl kommen, daß man gelegentlich
einen todt schlägt. Aber ist es nicht eine bar¬
barische Anstalt, den Kindern Mord und
Todtschlag zu verbieten? Wenn es hieße:
sorge für des Andern Leben, entferne was

zu thun hat, und ſinnt daruͤber nicht weiter
nach, als uͤber alberne Streiche, die er aus
Muͤßiggang und langer Weile vornimmt.

Wie verdrießlich iſt mir's oft, mit anzu¬
hoͤren, wie man die Zehngebote in der Kin¬
derlehre wiederhohlen laͤßt. Das vierte iſt
noch ein ganz huͤbſches vernuͤnftiges gebieten¬
des Gebot: Du ſollſt Vater und Mutter ehren.
Wenn ſich das die Kinder recht in den Sinn
ſchreiben, ſo haben ſie den ganzen Tag daran
auszuuͤben. Nun aber das fuͤnfte, was ſoll
man dazu ſagen? Du ſollſt nicht toͤdten. Als
wenn irgend ein Menſch im mindeſten Luſt
haͤtte den andern todt zu ſchlagen! Man haßt
einen, man erzuͤrnt ſich, man uͤbereilt ſich
und in Gefolg von dem und manchem andern
kann es wohl kommen, daß man gelegentlich
einen todt ſchlaͤgt. Aber iſt es nicht eine bar¬
bariſche Anſtalt, den Kindern Mord und
Todtſchlag zu verbieten? Wenn es hieße:
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[318/0321] zu thun hat, und ſinnt daruͤber nicht weiter nach, als uͤber alberne Streiche, die er aus Muͤßiggang und langer Weile vornimmt. Wie verdrießlich iſt mir's oft, mit anzu¬ hoͤren, wie man die Zehngebote in der Kin¬ derlehre wiederhohlen laͤßt. Das vierte iſt noch ein ganz huͤbſches vernuͤnftiges gebieten¬ des Gebot: Du ſollſt Vater und Mutter ehren. Wenn ſich das die Kinder recht in den Sinn ſchreiben, ſo haben ſie den ganzen Tag daran auszuuͤben. Nun aber das fuͤnfte, was ſoll man dazu ſagen? Du ſollſt nicht toͤdten. Als wenn irgend ein Menſch im mindeſten Luſt haͤtte den andern todt zu ſchlagen! Man haßt einen, man erzuͤrnt ſich, man uͤbereilt ſich und in Gefolg von dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen todt ſchlaͤgt. Aber iſt es nicht eine bar¬ bariſche Anſtalt, den Kindern Mord und Todtſchlag zu verbieten? Wenn es hieße: ſorge fuͤr des Andern Leben, entferne was

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/321>, abgerufen am 24.11.2024.