Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.Von allem abgesondert schwebt sie auf dem Sie sucht Hülfe bey sich selbst. So oft Von allem abgeſondert ſchwebt ſie auf dem Sie ſucht Huͤlfe bey ſich ſelbſt. So oft <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0258" n="255"/> Von allem abgeſondert ſchwebt ſie auf dem<lb/> treuloſen unzugaͤnglichen Elemente.</p><lb/> <p>Sie ſucht Huͤlfe bey ſich ſelbſt. So oft<lb/> hatte ſie von Rettung der Ertrunkenen gehoͤrt.<lb/> Noch am Abend ihres Geburtstags hatte ſie<lb/> es erlebt. Sie entkleidet das Kind, und<lb/> trocknet's mit ihrem Muſſelingewand. Sie<lb/> reißt ihren Buſen auf und zeigt ihn zum er¬<lb/> ſtenmal dem freyen Himmel; zum erſtenmal<lb/> druͤckt ſie ein Lebendiges an ihre reine nackte<lb/> Bruſt, ach! und kein Lebendiges. Die kalten<lb/> Glieder des ungluͤcklichen Geſchoͤpfs verkaͤlten<lb/> ihren Buſen bis ins innerſte Herz. Unendliche<lb/> Thraͤnen entquellen ihren Augen und ertheilen<lb/> der Oberflaͤche des Erſtarrten einen Schein<lb/> von Waͤrm' und Leben. Sie laͤßt nicht nach,<lb/> ſie uͤberhuͤllt es mit ihrem Shawl, und durch<lb/> Streicheln, Andruͤcken, Anhauchen, Kuͤſſen,<lb/> Thraͤnen glaubt ſie jene Huͤlfsmittel zu er¬<lb/> ſetzen, die ihr in dieſer Abgeſchnittenheit ver¬<lb/> ſagt ſind.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [255/0258]
Von allem abgeſondert ſchwebt ſie auf dem
treuloſen unzugaͤnglichen Elemente.
Sie ſucht Huͤlfe bey ſich ſelbſt. So oft
hatte ſie von Rettung der Ertrunkenen gehoͤrt.
Noch am Abend ihres Geburtstags hatte ſie
es erlebt. Sie entkleidet das Kind, und
trocknet's mit ihrem Muſſelingewand. Sie
reißt ihren Buſen auf und zeigt ihn zum er¬
ſtenmal dem freyen Himmel; zum erſtenmal
druͤckt ſie ein Lebendiges an ihre reine nackte
Bruſt, ach! und kein Lebendiges. Die kalten
Glieder des ungluͤcklichen Geſchoͤpfs verkaͤlten
ihren Buſen bis ins innerſte Herz. Unendliche
Thraͤnen entquellen ihren Augen und ertheilen
der Oberflaͤche des Erſtarrten einen Schein
von Waͤrm' und Leben. Sie laͤßt nicht nach,
ſie uͤberhuͤllt es mit ihrem Shawl, und durch
Streicheln, Andruͤcken, Anhauchen, Kuͤſſen,
Thraͤnen glaubt ſie jene Huͤlfsmittel zu er¬
ſetzen, die ihr in dieſer Abgeſchnittenheit ver¬
ſagt ſind.
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/258>, abgerufen am 04.07.2024. |