Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

sich gegen Abend im Gebüsch in der Nachbar¬
schaft des Sees, dessen Spiegel er zum er¬
stenmal vollkommen und rein erblickte.

Ottilie hatte diesen Nachmittag einen
Spazirgang an den See gemacht. Sie trug
das Kind und las im Gehen nach ihrer Ge¬
wohnheit. So gelangte sie zu den Eichen
bey der Ueberfahrt. Der Knabe war einge¬
schlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich
nieder und fuhr fort zu lesen. Das Buch
war eins von denen die ein zartes Gemüth
an sich ziehen und nicht wieder los lassen.
Sie vergaß Zeit und Stunde, und dachte
nicht, daß sie zu Lande noch einen weiten
Rückweg nach dem neuen Gebäude habe;
aber sie saß versenkt in ihr Buch, in sich selbst,
so liebenswürdig anzusehen, daß die Bäume,
die Sträuche rings umher hätten belebt, mit
Augen begabt seyn sollen, um sie zu bewundern
und sich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel
ein röthliches Streiflicht der sinkenden Sonne

ſich gegen Abend im Gebuͤſch in der Nachbar¬
ſchaft des Sees, deſſen Spiegel er zum er¬
ſtenmal vollkommen und rein erblickte.

Ottilie hatte dieſen Nachmittag einen
Spazirgang an den See gemacht. Sie trug
das Kind und las im Gehen nach ihrer Ge¬
wohnheit. So gelangte ſie zu den Eichen
bey der Ueberfahrt. Der Knabe war einge¬
ſchlafen; ſie ſetzte ſich, legte ihn neben ſich
nieder und fuhr fort zu leſen. Das Buch
war eins von denen die ein zartes Gemuͤth
an ſich ziehen und nicht wieder los laſſen.
Sie vergaß Zeit und Stunde, und dachte
nicht, daß ſie zu Lande noch einen weiten
Ruͤckweg nach dem neuen Gebaͤude habe;
aber ſie ſaß verſenkt in ihr Buch, in ſich ſelbſt,
ſo liebenswuͤrdig anzuſehen, daß die Baͤume,
die Straͤuche rings umher haͤtten belebt, mit
Augen begabt ſeyn ſollen, um ſie zu bewundern
und ſich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel
ein roͤthliches Streiflicht der ſinkenden Sonne

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0250" n="247"/>
&#x017F;ich gegen Abend im Gebu&#x0364;&#x017F;ch in der Nachbar¬<lb/>
&#x017F;chaft des Sees, de&#x017F;&#x017F;en Spiegel er zum er¬<lb/>
&#x017F;tenmal vollkommen und rein erblickte.</p><lb/>
        <p>Ottilie hatte die&#x017F;en Nachmittag einen<lb/>
Spazirgang an den See gemacht. Sie trug<lb/>
das Kind und las im Gehen nach ihrer Ge¬<lb/>
wohnheit. So gelangte &#x017F;ie zu den Eichen<lb/>
bey der Ueberfahrt. Der Knabe war einge¬<lb/>
&#x017F;chlafen; &#x017F;ie &#x017F;etzte &#x017F;ich, legte ihn neben &#x017F;ich<lb/>
nieder und fuhr fort zu le&#x017F;en. Das Buch<lb/>
war eins von denen die ein zartes Gemu&#x0364;th<lb/>
an &#x017F;ich ziehen und nicht wieder los la&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Sie vergaß Zeit und Stunde, und dachte<lb/>
nicht, daß &#x017F;ie zu Lande noch einen weiten<lb/>
Ru&#x0364;ckweg nach dem neuen Geba&#x0364;ude habe;<lb/>
aber &#x017F;ie &#x017F;aß ver&#x017F;enkt in ihr Buch, in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o liebenswu&#x0364;rdig anzu&#x017F;ehen, daß die Ba&#x0364;ume,<lb/>
die Stra&#x0364;uche rings umher ha&#x0364;tten belebt, mit<lb/>
Augen begabt &#x017F;eyn &#x017F;ollen, um &#x017F;ie zu bewundern<lb/>
und &#x017F;ich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel<lb/>
ein ro&#x0364;thliches Streiflicht der &#x017F;inkenden Sonne<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[247/0250] ſich gegen Abend im Gebuͤſch in der Nachbar¬ ſchaft des Sees, deſſen Spiegel er zum er¬ ſtenmal vollkommen und rein erblickte. Ottilie hatte dieſen Nachmittag einen Spazirgang an den See gemacht. Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Ge¬ wohnheit. So gelangte ſie zu den Eichen bey der Ueberfahrt. Der Knabe war einge¬ ſchlafen; ſie ſetzte ſich, legte ihn neben ſich nieder und fuhr fort zu leſen. Das Buch war eins von denen die ein zartes Gemuͤth an ſich ziehen und nicht wieder los laſſen. Sie vergaß Zeit und Stunde, und dachte nicht, daß ſie zu Lande noch einen weiten Ruͤckweg nach dem neuen Gebaͤude habe; aber ſie ſaß verſenkt in ihr Buch, in ſich ſelbſt, ſo liebenswuͤrdig anzuſehen, daß die Baͤume, die Straͤuche rings umher haͤtten belebt, mit Augen begabt ſeyn ſollen, um ſie zu bewundern und ſich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel ein roͤthliches Streiflicht der ſinkenden Sonne

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/250
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/250>, abgerufen am 24.11.2024.