Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

"Warum nur das Jahr manchmal so
kurz, manchmal so lang ist, warum es so
kurz scheint und so lang in der Erinnrung!
Mir ist es mit dem vergangenen so, und nir¬
gends auffallender als im Garten, wie ver¬
gängliches und dauerndes in einander greift.
Und doch ist nichts so flüchtig das nicht eine
Spur, das nicht seines Gleichen zurücklasse."

"Man läßt sich den Winter auch gefallen.
Man glaubt sich freyer auszubreiten, wenn
die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor
uns stehen. Sie sind nichts, aber sie decken
auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen
und Blüten kommen, dann wird man unge¬
duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die
Landschaft sich verkörpert und der Baum sich
als eine Gestalt uns entgegen drängt."

"Alles Vollkommene in seiner Art muß
über seine Art hinausgehen, es muß etwas
anderes unvergleichbares werden. In manchen

II. 12

„Warum nur das Jahr manchmal ſo
kurz, manchmal ſo lang iſt, warum es ſo
kurz ſcheint und ſo lang in der Erinnrung!
Mir iſt es mit dem vergangenen ſo, und nir¬
gends auffallender als im Garten, wie ver¬
gaͤngliches und dauerndes in einander greift.
Und doch iſt nichts ſo fluͤchtig das nicht eine
Spur, das nicht ſeines Gleichen zuruͤcklaſſe.“

„Man laͤßt ſich den Winter auch gefallen.
Man glaubt ſich freyer auszubreiten, wenn
die Baͤume ſo geiſterhaft, ſo durchſichtig vor
uns ſtehen. Sie ſind nichts, aber ſie decken
auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen
und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬
duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die
Landſchaft ſich verkoͤrpert und der Baum ſich
als eine Geſtalt uns entgegen draͤngt.“

„Alles Vollkommene in ſeiner Art muß
uͤber ſeine Art hinausgehen, es muß etwas
anderes unvergleichbares werden. In manchen

II. 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0180" n="177"/>
          <p>&#x201E;Warum nur das Jahr manchmal &#x017F;o<lb/>
kurz, manchmal &#x017F;o lang i&#x017F;t, warum es &#x017F;o<lb/>
kurz &#x017F;cheint und &#x017F;o lang in der Erinnrung!<lb/>
Mir i&#x017F;t es mit dem vergangenen &#x017F;o, und nir¬<lb/>
gends auffallender als im Garten, wie ver¬<lb/>
ga&#x0364;ngliches und dauerndes in einander greift.<lb/>
Und doch i&#x017F;t nichts &#x017F;o flu&#x0364;chtig das nicht eine<lb/>
Spur, das nicht &#x017F;eines Gleichen zuru&#x0364;ckla&#x017F;&#x017F;e.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Man la&#x0364;ßt &#x017F;ich den Winter auch gefallen.<lb/>
Man glaubt &#x017F;ich freyer auszubreiten, wenn<lb/>
die Ba&#x0364;ume &#x017F;o gei&#x017F;terhaft, &#x017F;o durch&#x017F;ichtig vor<lb/>
uns &#x017F;tehen. Sie &#x017F;ind nichts, aber &#x017F;ie decken<lb/>
auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen<lb/>
und Blu&#x0364;ten kommen, dann wird man unge¬<lb/>
duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die<lb/>
Land&#x017F;chaft &#x017F;ich verko&#x0364;rpert und der Baum &#x017F;ich<lb/>
als eine Ge&#x017F;talt uns entgegen dra&#x0364;ngt.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Alles Vollkommene in &#x017F;einer Art muß<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;eine Art hinausgehen, es muß etwas<lb/>
anderes unvergleichbares werden. In manchen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II</hi>. 12<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0180] „Warum nur das Jahr manchmal ſo kurz, manchmal ſo lang iſt, warum es ſo kurz ſcheint und ſo lang in der Erinnrung! Mir iſt es mit dem vergangenen ſo, und nir¬ gends auffallender als im Garten, wie ver¬ gaͤngliches und dauerndes in einander greift. Und doch iſt nichts ſo fluͤchtig das nicht eine Spur, das nicht ſeines Gleichen zuruͤcklaſſe.“ „Man laͤßt ſich den Winter auch gefallen. Man glaubt ſich freyer auszubreiten, wenn die Baͤume ſo geiſterhaft, ſo durchſichtig vor uns ſtehen. Sie ſind nichts, aber ſie decken auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬ duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die Landſchaft ſich verkoͤrpert und der Baum ſich als eine Geſtalt uns entgegen draͤngt.“ „Alles Vollkommene in ſeiner Art muß uͤber ſeine Art hinausgehen, es muß etwas anderes unvergleichbares werden. In manchen II. 12

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/180
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/180>, abgerufen am 22.11.2024.