Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

etwas bewegen, er wäre in Sorge gestanden,
ob ihm jemals etwas wieder so gefallen könne.
Unglücklicherweise war Niemand da, der
diese ganze Wirkung aufzufassen vermocht
hätte. Der Architect allein, der als langer
schlanker Hirt von der Seite über die Knieen¬
den hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem
genausten Standpunct, noch den größten Ge¬
nuß. Und wer beschreibt auch die Miene der
neugeschaffenen Himmelsköniginn? Die reinste
Demuth, das liebenswürdigste Gefühl von
Bescheidenheit bey einer großen unverdient
erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬
lichen Glück, bildete sich in ihren Zügen, sowohl
indem sich ihre eigene Empfindung, als indem
sich die Vorstellung ausdrückte, die sie sich von
dem machen konnte was sie spielte.

Charlotten erfreute das schöne Gebilde,
doch wirkte hauptsächlich das Kind auf sie.
Ihre Augen strömten von Thränen und sie
stellte sich auf das lebhafteste vor, daß sie

etwas bewegen, er waͤre in Sorge geſtanden,
ob ihm jemals etwas wieder ſo gefallen koͤnne.
Ungluͤcklicherweiſe war Niemand da, der
dieſe ganze Wirkung aufzufaſſen vermocht
haͤtte. Der Architect allein, der als langer
ſchlanker Hirt von der Seite uͤber die Knieen¬
den hereinſah, hatte, obgleich nicht in dem
genauſten Standpunct, noch den groͤßten Ge¬
nuß. Und wer beſchreibt auch die Miene der
neugeſchaffenen Himmelskoͤniginn? Die reinſte
Demuth, das liebenswuͤrdigſte Gefuͤhl von
Beſcheidenheit bey einer großen unverdient
erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬
lichen Gluͤck, bildete ſich in ihren Zuͤgen, ſowohl
indem ſich ihre eigene Empfindung, als indem
ſich die Vorſtellung ausdruͤckte, die ſie ſich von
dem machen konnte was ſie ſpielte.

Charlotten erfreute das ſchoͤne Gebilde,
doch wirkte hauptſaͤchlich das Kind auf ſie.
Ihre Augen ſtroͤmten von Thraͤnen und ſie
ſtellte ſich auf das lebhafteſte vor, daß ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0122" n="119"/>
etwas bewegen, er wa&#x0364;re in Sorge ge&#x017F;tanden,<lb/>
ob ihm jemals etwas wieder &#x017F;o gefallen ko&#x0364;nne.<lb/>
Unglu&#x0364;cklicherwei&#x017F;e war Niemand da, der<lb/>
die&#x017F;e ganze Wirkung aufzufa&#x017F;&#x017F;en vermocht<lb/>
ha&#x0364;tte. Der Architect allein, der als langer<lb/>
&#x017F;chlanker Hirt von der Seite u&#x0364;ber die Knieen¬<lb/>
den herein&#x017F;ah, hatte, obgleich nicht in dem<lb/>
genau&#x017F;ten Standpunct, noch den gro&#x0364;ßten Ge¬<lb/>
nuß. Und wer be&#x017F;chreibt auch die Miene der<lb/>
neuge&#x017F;chaffenen Himmelsko&#x0364;niginn? Die rein&#x017F;te<lb/>
Demuth, das liebenswu&#x0364;rdig&#x017F;te Gefu&#x0364;hl von<lb/>
Be&#x017F;cheidenheit bey einer großen unverdient<lb/>
erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬<lb/>
lichen Glu&#x0364;ck, bildete &#x017F;ich in ihren Zu&#x0364;gen, &#x017F;owohl<lb/>
indem &#x017F;ich ihre eigene Empfindung, als indem<lb/>
&#x017F;ich die Vor&#x017F;tellung ausdru&#x0364;ckte, die &#x017F;ie &#x017F;ich von<lb/>
dem machen konnte was &#x017F;ie &#x017F;pielte.</p><lb/>
        <p>Charlotten erfreute das &#x017F;cho&#x0364;ne Gebilde,<lb/>
doch wirkte haupt&#x017F;a&#x0364;chlich das Kind auf &#x017F;ie.<lb/>
Ihre Augen &#x017F;tro&#x0364;mten von Thra&#x0364;nen und &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;tellte &#x017F;ich auf das lebhafte&#x017F;te vor, daß &#x017F;ie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0122] etwas bewegen, er waͤre in Sorge geſtanden, ob ihm jemals etwas wieder ſo gefallen koͤnne. Ungluͤcklicherweiſe war Niemand da, der dieſe ganze Wirkung aufzufaſſen vermocht haͤtte. Der Architect allein, der als langer ſchlanker Hirt von der Seite uͤber die Knieen¬ den hereinſah, hatte, obgleich nicht in dem genauſten Standpunct, noch den groͤßten Ge¬ nuß. Und wer beſchreibt auch die Miene der neugeſchaffenen Himmelskoͤniginn? Die reinſte Demuth, das liebenswuͤrdigſte Gefuͤhl von Beſcheidenheit bey einer großen unverdient erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬ lichen Gluͤck, bildete ſich in ihren Zuͤgen, ſowohl indem ſich ihre eigene Empfindung, als indem ſich die Vorſtellung ausdruͤckte, die ſie ſich von dem machen konnte was ſie ſpielte. Charlotten erfreute das ſchoͤne Gebilde, doch wirkte hauptſaͤchlich das Kind auf ſie. Ihre Augen ſtroͤmten von Thraͤnen und ſie ſtellte ſich auf das lebhafteſte vor, daß ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/122
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/122>, abgerufen am 25.11.2024.