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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Man sollte dergleichen, versetzte der
Hauptmann, nicht mit Worten abthun. Wie
schon gesagt! sobald ich Ihnen die Versuche
selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und
angenehmer werden. Jetzt müßte ich Sie mit
schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen
doch keine Vorstellung gäben. Man muß
diese todtscheinenden und doch zur Thätigkeit
innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor
seinen Augen sehen, mit Theilnahme schauen,
wie sie einander suchen, sich anziehen, ergrei¬
fen, zerstören, verschlingen, aufzehren und
sodann aus der innigsten Verbindung wieder
in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt her¬
vortreten: dann traut man ihnen erst ein
ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Ver¬
stand zu, weil wir unsere Sinne kaum ge¬
nügend fühlen, sie recht zu beobachten, und
unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen.

Ich läugne nicht, sagte Eduard, daß die
seltsamen Kunstwörter demjenigen der nicht

Man ſollte dergleichen, verſetzte der
Hauptmann, nicht mit Worten abthun. Wie
ſchon geſagt! ſobald ich Ihnen die Verſuche
ſelbſt zeigen kann, wird alles anſchaulicher und
angenehmer werden. Jetzt muͤßte ich Sie mit
ſchrecklichen Kunſtworten hinhalten, die Ihnen
doch keine Vorſtellung gaͤben. Man muß
dieſe todtſcheinenden und doch zur Thaͤtigkeit
innerlich immer bereiten Weſen wirkend vor
ſeinen Augen ſehen, mit Theilnahme ſchauen,
wie ſie einander ſuchen, ſich anziehen, ergrei¬
fen, zerſtoͤren, verſchlingen, aufzehren und
ſodann aus der innigſten Verbindung wieder
in erneuter, neuer, unerwarteter Geſtalt her¬
vortreten: dann traut man ihnen erſt ein
ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Ver¬
ſtand zu, weil wir unſere Sinne kaum ge¬
nuͤgend fuͤhlen, ſie recht zu beobachten, und
unſre Vernunft kaum hinlaͤnglich, ſie zu faſſen.

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[89/0094] Man ſollte dergleichen, verſetzte der Hauptmann, nicht mit Worten abthun. Wie ſchon geſagt! ſobald ich Ihnen die Verſuche ſelbſt zeigen kann, wird alles anſchaulicher und angenehmer werden. Jetzt muͤßte ich Sie mit ſchrecklichen Kunſtworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorſtellung gaͤben. Man muß dieſe todtſcheinenden und doch zur Thaͤtigkeit innerlich immer bereiten Weſen wirkend vor ſeinen Augen ſehen, mit Theilnahme ſchauen, wie ſie einander ſuchen, ſich anziehen, ergrei¬ fen, zerſtoͤren, verſchlingen, aufzehren und ſodann aus der innigſten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Geſtalt her¬ vortreten: dann traut man ihnen erſt ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Ver¬ ſtand zu, weil wir unſere Sinne kaum ge¬ nuͤgend fuͤhlen, ſie recht zu beobachten, und unſre Vernunft kaum hinlaͤnglich, ſie zu faſſen. Ich laͤugne nicht, ſagte Eduard, daß die ſeltſamen Kunſtwoͤrter demjenigen der nicht

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/94>, abgerufen am 06.05.2024.