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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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und war früher, wegen lebhafter gefühlter
Recitation dichterischer und rednerischer Ar¬
beiten, angenehm und berühmt gewesen. Nun
waren es andre Gegenstände die ihn beschäf¬
tigten, andre Schriften woraus er vorlas
und eben seit einiger Zeit vorzüglich Werke
physischen, chemischen und technischen Inhalts.

Eine seiner besondern Eigenheiten, die er
jedoch vielleicht mit mehrern Menschen theilt,
war die, daß es ihm unerträglich fiel, wenn
Jemand ihm beym Lesen in das Buch sah.
In früherer Zeit, beym Vorlesen von Gedich¬
ten, Schauspielen, Erzählungen, war es die
natürliche Folge der lebhaften Absicht, die der
Vorlesende so gut als der Dichter, der Schau¬
spieler, der Erzählende hat, zu überraschen,
Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen;
da es denn freylich dieser beabsichtigten Wir¬
kung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Drit¬
ter wissentlich mit den Augen vorspringt. Er
pflegte sich auch deswegen in solchem Falle

und war fruͤher, wegen lebhafter gefuͤhlter
Recitation dichteriſcher und redneriſcher Ar¬
beiten, angenehm und beruͤhmt geweſen. Nun
waren es andre Gegenſtaͤnde die ihn beſchaͤf¬
tigten, andre Schriften woraus er vorlas
und eben ſeit einiger Zeit vorzuͤglich Werke
phyſiſchen, chemiſchen und techniſchen Inhalts.

Eine ſeiner beſondern Eigenheiten, die er
jedoch vielleicht mit mehrern Menſchen theilt,
war die, daß es ihm unertraͤglich fiel, wenn
Jemand ihm beym Leſen in das Buch ſah.
In fruͤherer Zeit, beym Vorleſen von Gedich¬
ten, Schauſpielen, Erzaͤhlungen, war es die
natuͤrliche Folge der lebhaften Abſicht, die der
Vorleſende ſo gut als der Dichter, der Schau¬
ſpieler, der Erzaͤhlende hat, zu uͤberraſchen,
Pauſen zu machen, Erwartungen zu erregen;
da es denn freylich dieſer beabſichtigten Wir¬
kung ſehr zuwider iſt, wenn ihm ein Drit¬
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[72/0077] und war fruͤher, wegen lebhafter gefuͤhlter Recitation dichteriſcher und redneriſcher Ar¬ beiten, angenehm und beruͤhmt geweſen. Nun waren es andre Gegenſtaͤnde die ihn beſchaͤf¬ tigten, andre Schriften woraus er vorlas und eben ſeit einiger Zeit vorzuͤglich Werke phyſiſchen, chemiſchen und techniſchen Inhalts. Eine ſeiner beſondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menſchen theilt, war die, daß es ihm unertraͤglich fiel, wenn Jemand ihm beym Leſen in das Buch ſah. In fruͤherer Zeit, beym Vorleſen von Gedich¬ ten, Schauſpielen, Erzaͤhlungen, war es die natuͤrliche Folge der lebhaften Abſicht, die der Vorleſende ſo gut als der Dichter, der Schau¬ ſpieler, der Erzaͤhlende hat, zu uͤberraſchen, Pauſen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freylich dieſer beabſichtigten Wir¬ kung ſehr zuwider iſt, wenn ihm ein Drit¬ ter wiſſentlich mit den Augen vorſpringt. Er pflegte ſich auch deswegen in ſolchem Falle

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/77>, abgerufen am 05.05.2024.