Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

war der Zustand beyder Frauen sehr verschie¬
den. Wenn alles beym Alten blieb, wenn
man in das Gleis des gesetzmäßigen Lebens
zurückkehrte, gewann Charlotte an gegenwär¬
tigem Glück, und eine frohe Aussicht in die Zu¬
kunft öffnete sich ihr; Ottilie hingegen verlor
alles, man kann wohl sagen, alles: denn sie
hatte zuerst Leben und Freude in Eduard ge¬
funden, und in dem gegenwärtigen Zustande
fühlte sie eine unendliche Leere, wovon sie
früher kaum etwas geahndet hatte. Denn
ein Herz das sucht, fühlt wohl daß ihm et¬
was mangle, ein Herz das verloren hat, fühlt
daß es entbehre. Sehnsucht verwandelt sich
in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches
Gemüth, zum Erwarten und Abwarten ge¬
wöhnt, möchte nun aus seinem Kreise heraus¬
schreiten, thätig werden, unternehmen und
auch etwas für sein Glück thun.

Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt. Wie
konnte sie es auch, obgleich Charlotte klug
genug, gegen ihre eigne Ueberzeugung, die

war der Zuſtand beyder Frauen ſehr verſchie¬
den. Wenn alles beym Alten blieb, wenn
man in das Gleis des geſetzmaͤßigen Lebens
zuruͤckkehrte, gewann Charlotte an gegenwaͤr¬
tigem Gluͤck, und eine frohe Ausſicht in die Zu¬
kunft oͤffnete ſich ihr; Ottilie hingegen verlor
alles, man kann wohl ſagen, alles: denn ſie
hatte zuerſt Leben und Freude in Eduard ge¬
funden, und in dem gegenwaͤrtigen Zuſtande
fuͤhlte ſie eine unendliche Leere, wovon ſie
fruͤher kaum etwas geahndet hatte. Denn
ein Herz das ſucht, fuͤhlt wohl daß ihm et¬
was mangle, ein Herz das verloren hat, fuͤhlt
daß es entbehre. Sehnſucht verwandelt ſich
in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches
Gemuͤth, zum Erwarten und Abwarten ge¬
woͤhnt, moͤchte nun aus ſeinem Kreiſe heraus¬
ſchreiten, thaͤtig werden, unternehmen und
auch etwas fuͤr ſein Gluͤck thun.

Ottilie hatte Eduarden nicht entſagt. Wie
konnte ſie es auch, obgleich Charlotte klug
genug, gegen ihre eigne Ueberzeugung, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0290" n="285"/>
war der Zu&#x017F;tand beyder Frauen &#x017F;ehr ver&#x017F;chie¬<lb/>
den. Wenn alles beym Alten blieb, wenn<lb/>
man in das Gleis des ge&#x017F;etzma&#x0364;ßigen Lebens<lb/>
zuru&#x0364;ckkehrte, gewann Charlotte an gegenwa&#x0364;<lb/>
tigem Glu&#x0364;ck, und eine frohe Aus&#x017F;icht in die Zu¬<lb/>
kunft o&#x0364;ffnete &#x017F;ich ihr; Ottilie hingegen verlor<lb/>
alles, man kann wohl &#x017F;agen, alles: denn &#x017F;ie<lb/>
hatte zuer&#x017F;t Leben und Freude in Eduard ge¬<lb/>
funden, und in dem gegenwa&#x0364;rtigen Zu&#x017F;tande<lb/>
fu&#x0364;hlte &#x017F;ie eine unendliche Leere, wovon &#x017F;ie<lb/>
fru&#x0364;her kaum etwas geahndet hatte. Denn<lb/>
ein Herz das &#x017F;ucht, fu&#x0364;hlt wohl daß ihm et¬<lb/>
was mangle, ein Herz das verloren hat, fu&#x0364;hlt<lb/>
daß es entbehre. Sehn&#x017F;ucht verwandelt &#x017F;ich<lb/>
in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches<lb/>
Gemu&#x0364;th, zum Erwarten und Abwarten ge¬<lb/>
wo&#x0364;hnt, mo&#x0364;chte nun aus &#x017F;einem Krei&#x017F;e heraus¬<lb/>
&#x017F;chreiten, tha&#x0364;tig werden, unternehmen und<lb/>
auch etwas fu&#x0364;r &#x017F;ein Glu&#x0364;ck thun.</p><lb/>
        <p>Ottilie hatte Eduarden nicht ent&#x017F;agt. Wie<lb/>
konnte &#x017F;ie es auch, obgleich Charlotte klug<lb/>
genug, gegen ihre eigne Ueberzeugung, die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285/0290] war der Zuſtand beyder Frauen ſehr verſchie¬ den. Wenn alles beym Alten blieb, wenn man in das Gleis des geſetzmaͤßigen Lebens zuruͤckkehrte, gewann Charlotte an gegenwaͤr¬ tigem Gluͤck, und eine frohe Ausſicht in die Zu¬ kunft oͤffnete ſich ihr; Ottilie hingegen verlor alles, man kann wohl ſagen, alles: denn ſie hatte zuerſt Leben und Freude in Eduard ge¬ funden, und in dem gegenwaͤrtigen Zuſtande fuͤhlte ſie eine unendliche Leere, wovon ſie fruͤher kaum etwas geahndet hatte. Denn ein Herz das ſucht, fuͤhlt wohl daß ihm et¬ was mangle, ein Herz das verloren hat, fuͤhlt daß es entbehre. Sehnſucht verwandelt ſich in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches Gemuͤth, zum Erwarten und Abwarten ge¬ woͤhnt, moͤchte nun aus ſeinem Kreiſe heraus¬ ſchreiten, thaͤtig werden, unternehmen und auch etwas fuͤr ſein Gluͤck thun. Ottilie hatte Eduarden nicht entſagt. Wie konnte ſie es auch, obgleich Charlotte klug genug, gegen ihre eigne Ueberzeugung, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/290
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/290>, abgerufen am 24.11.2024.