Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

jemehr man sich dem Termin der Aufkündi¬
gung näherte. Der gleichgültige, ja selbst der
unzufriedene Theil würde durch ein solches
Betragen begütigt und eingenommen. Man
vergäße, wie man in guter Gesellschaft die
Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und
fände sich aufs angenehmste überrascht, wenn
man nach verlaufnem Termin erst bemerkte,
daß er schon stillschweigend verlängert sey.

So artig und lustig dieß klang und so
gut man, wie Charlotte wohl empfand, die¬
sem Scherz eine tiefe moralische Deutung ge¬
ben konnte, so waren ihr dergleichen Aeuße¬
rungen, besonders um Ottiliens willen, nicht
angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts
gefährlicher sey, als ein allzufreyes Gespräch,
das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zu¬
stand als einen gewöhnlichen, gemeinen, ja
löblichen behandelt; und dahin gehört doch
gewiß alles was die eheliche Verbindung an¬
tastet. Sie suchte daher nach ihrer gewand¬

jemehr man ſich dem Termin der Aufkuͤndi¬
gung naͤherte. Der gleichguͤltige, ja ſelbſt der
unzufriedene Theil wuͤrde durch ein ſolches
Betragen beguͤtigt und eingenommen. Man
vergaͤße, wie man in guter Geſellſchaft die
Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und
faͤnde ſich aufs angenehmſte uͤberraſcht, wenn
man nach verlaufnem Termin erſt bemerkte,
daß er ſchon ſtillſchweigend verlaͤngert ſey.

So artig und luſtig dieß klang und ſo
gut man, wie Charlotte wohl empfand, die¬
ſem Scherz eine tiefe moraliſche Deutung ge¬
ben konnte, ſo waren ihr dergleichen Aeuße¬
rungen, beſonders um Ottiliens willen, nicht
angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts
gefaͤhrlicher ſey, als ein allzufreyes Geſpraͤch,
das einen ſtrafbaren oder halbſtrafbaren Zu¬
ſtand als einen gewoͤhnlichen, gemeinen, ja
loͤblichen behandelt; und dahin gehoͤrt doch
gewiß alles was die eheliche Verbindung an¬
taſtet. Sie ſuchte daher nach ihrer gewand¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0183" n="178"/>
jemehr man &#x017F;ich dem Termin der Aufku&#x0364;ndi¬<lb/>
gung na&#x0364;herte. Der gleichgu&#x0364;ltige, ja &#x017F;elb&#x017F;t der<lb/>
unzufriedene Theil wu&#x0364;rde durch ein &#x017F;olches<lb/>
Betragen begu&#x0364;tigt und eingenommen. Man<lb/>
verga&#x0364;ße, wie man in guter Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft die<lb/>
Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und<lb/>
fa&#x0364;nde &#x017F;ich aufs angenehm&#x017F;te u&#x0364;berra&#x017F;cht, wenn<lb/>
man nach verlaufnem Termin er&#x017F;t bemerkte,<lb/>
daß er &#x017F;chon &#x017F;till&#x017F;chweigend verla&#x0364;ngert &#x017F;ey.</p><lb/>
        <p>So artig und lu&#x017F;tig dieß klang und &#x017F;o<lb/>
gut man, wie Charlotte wohl empfand, die¬<lb/>
&#x017F;em Scherz eine tiefe morali&#x017F;che Deutung ge¬<lb/>
ben konnte, &#x017F;o waren ihr dergleichen Aeuße¬<lb/>
rungen, be&#x017F;onders um Ottiliens willen, nicht<lb/>
angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts<lb/>
gefa&#x0364;hrlicher &#x017F;ey, als ein allzufreyes Ge&#x017F;pra&#x0364;ch,<lb/>
das einen &#x017F;trafbaren oder halb&#x017F;trafbaren Zu¬<lb/>
&#x017F;tand als einen gewo&#x0364;hnlichen, gemeinen, ja<lb/>
lo&#x0364;blichen behandelt; und dahin geho&#x0364;rt doch<lb/>
gewiß alles was die eheliche Verbindung an¬<lb/>
ta&#x017F;tet. Sie &#x017F;uchte daher nach ihrer gewand¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0183] jemehr man ſich dem Termin der Aufkuͤndi¬ gung naͤherte. Der gleichguͤltige, ja ſelbſt der unzufriedene Theil wuͤrde durch ein ſolches Betragen beguͤtigt und eingenommen. Man vergaͤße, wie man in guter Geſellſchaft die Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und faͤnde ſich aufs angenehmſte uͤberraſcht, wenn man nach verlaufnem Termin erſt bemerkte, daß er ſchon ſtillſchweigend verlaͤngert ſey. So artig und luſtig dieß klang und ſo gut man, wie Charlotte wohl empfand, die¬ ſem Scherz eine tiefe moraliſche Deutung ge¬ ben konnte, ſo waren ihr dergleichen Aeuße¬ rungen, beſonders um Ottiliens willen, nicht angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts gefaͤhrlicher ſey, als ein allzufreyes Geſpraͤch, das einen ſtrafbaren oder halbſtrafbaren Zu¬ ſtand als einen gewoͤhnlichen, gemeinen, ja loͤblichen behandelt; und dahin gehoͤrt doch gewiß alles was die eheliche Verbindung an¬ taſtet. Sie ſuchte daher nach ihrer gewand¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/183
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/183>, abgerufen am 06.05.2024.