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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Gebildetste hat keine beßre Gelegenheit seine
Milde zu beweisen. Unauflöslich muß sie
seyn: denn sie bringt so vieles Glück, daß alles
einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen
ist. Und was will man von Unglück reden?
Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit
zu Zeit anfällt, und dann beliebt er sich un¬
glücklich zu finden. Lasse man den Augen¬
blick vorübergehen, und man wird sich glück¬
lich preisen, daß ein so lange Bestandenes noch
besteht. Sich zu trennen giebt's gar keinen
hinlänglichen Grund. Der menschliche Zu¬
stand ist so hoch in Leiden und Freuden ge¬
setzt, daß gar nicht berechnet werden kann,
was ein Paar Gatten einander schuldig wer¬
den. Es ist eine unendliche Schuld, die nur
durch die Ewigkeit abgetragen werden kann.
Unbequem mag es manchmal seyn, das glaub'
ich wohl, und das ist eben Recht. Sind
wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet?
das wir oft gerne los seyn möchten, weil es

Gebildetſte hat keine beßre Gelegenheit ſeine
Milde zu beweiſen. Unaufloͤslich muß ſie
ſeyn: denn ſie bringt ſo vieles Gluͤck, daß alles
einzelne Ungluͤck dagegen gar nicht zu rechnen
iſt. Und was will man von Ungluͤck reden?
Ungeduld iſt es, die den Menſchen von Zeit
zu Zeit anfaͤllt, und dann beliebt er ſich un¬
gluͤcklich zu finden. Laſſe man den Augen¬
blick voruͤbergehen, und man wird ſich gluͤck¬
lich preiſen, daß ein ſo lange Beſtandenes noch
beſteht. Sich zu trennen giebt's gar keinen
hinlaͤnglichen Grund. Der menſchliche Zu¬
ſtand iſt ſo hoch in Leiden und Freuden ge¬
ſetzt, daß gar nicht berechnet werden kann,
was ein Paar Gatten einander ſchuldig wer¬
den. Es iſt eine unendliche Schuld, die nur
durch die Ewigkeit abgetragen werden kann.
Unbequem mag es manchmal ſeyn, das glaub'
ich wohl, und das iſt eben Recht. Sind
wir nicht auch mit dem Gewiſſen verheiratet?
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[170/0175] Gebildetſte hat keine beßre Gelegenheit ſeine Milde zu beweiſen. Unaufloͤslich muß ſie ſeyn: denn ſie bringt ſo vieles Gluͤck, daß alles einzelne Ungluͤck dagegen gar nicht zu rechnen iſt. Und was will man von Ungluͤck reden? Ungeduld iſt es, die den Menſchen von Zeit zu Zeit anfaͤllt, und dann beliebt er ſich un¬ gluͤcklich zu finden. Laſſe man den Augen¬ blick voruͤbergehen, und man wird ſich gluͤck¬ lich preiſen, daß ein ſo lange Beſtandenes noch beſteht. Sich zu trennen giebt's gar keinen hinlaͤnglichen Grund. Der menſchliche Zu¬ ſtand iſt ſo hoch in Leiden und Freuden ge¬ ſetzt, daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander ſchuldig wer¬ den. Es iſt eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal ſeyn, das glaub' ich wohl, und das iſt eben Recht. Sind wir nicht auch mit dem Gewiſſen verheiratet? das wir oft gerne los ſeyn moͤchten, weil es

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/175>, abgerufen am 23.11.2024.