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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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billig auf sich warten. Sie eilten, besonders
Abends, nicht sobald von Tische weg. Char¬
lotte bemerkte das wohl und ließ beyde nicht
unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob
einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe;
aber sie konnte keinen Unterschied bemerken.
Beyde zeigten sich überhaupt geselliger. Bey
ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken,
was Ottiliens Theilnahme zu erregen geeignet
seyn möchte, was ihren Einsichten, ihren übri¬
gen Kenntnissen gemäß wäre. Beym Lesen
und Erzählen hielten sie inne, bis sie wieder¬
kam. Sie wurden milder und im Ganzen
mittheilender.

In Erwiederung dagegen wuchs die Dienst¬
beflissenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je
mehr sie das Haus, die Menschen, die Ver¬
hältnisse kennen lernte, desto lebhafter griff
sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blick,
jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.
Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer

billig auf ſich warten. Sie eilten, beſonders
Abends, nicht ſobald von Tiſche weg. Char¬
lotte bemerkte das wohl und ließ beyde nicht
unbeobachtet. Sie ſuchte zu erforſchen, ob
einer vor dem andern hiezu den Anlaß gaͤbe;
aber ſie konnte keinen Unterſchied bemerken.
Beyde zeigten ſich uͤberhaupt geſelliger. Bey
ihren Unterhaltungen ſchienen ſie zu bedenken,
was Ottiliens Theilnahme zu erregen geeignet
ſeyn moͤchte, was ihren Einſichten, ihren uͤbri¬
gen Kenntniſſen gemaͤß waͤre. Beym Leſen
und Erzaͤhlen hielten ſie inne, bis ſie wieder¬
kam. Sie wurden milder und im Ganzen
mittheilender.

In Erwiederung dagegen wuchs die Dienſt¬
befliſſenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je
mehr ſie das Haus, die Menſchen, die Ver¬
haͤltniſſe kennen lernte, deſto lebhafter griff
ſie ein, deſto ſchneller verſtand ſie jeden Blick,
jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.
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[110/0115] billig auf ſich warten. Sie eilten, beſonders Abends, nicht ſobald von Tiſche weg. Char¬ lotte bemerkte das wohl und ließ beyde nicht unbeobachtet. Sie ſuchte zu erforſchen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gaͤbe; aber ſie konnte keinen Unterſchied bemerken. Beyde zeigten ſich uͤberhaupt geſelliger. Bey ihren Unterhaltungen ſchienen ſie zu bedenken, was Ottiliens Theilnahme zu erregen geeignet ſeyn moͤchte, was ihren Einſichten, ihren uͤbri¬ gen Kenntniſſen gemaͤß waͤre. Beym Leſen und Erzaͤhlen hielten ſie inne, bis ſie wieder¬ kam. Sie wurden milder und im Ganzen mittheilender. In Erwiederung dagegen wuchs die Dienſt¬ befliſſenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr ſie das Haus, die Menſchen, die Ver¬ haͤltniſſe kennen lernte, deſto lebhafter griff ſie ein, deſto ſchneller verſtand ſie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerkſamkeit blieb ſich immer

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/115>, abgerufen am 08.05.2024.