Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Zeit an einem guten Essen und zugleich an einem so erwünschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit jeder Minute schöner würde. Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen, was sich auf Neigung und Liebe bezog. Es ward abgeräumt; ich zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu nähern, aber vergebens; sie hielt mich durch eine gewisse Würde zurück, der ich nicht widerstehen konnte, ja ich mußte wider meinen Willen zeitig genug von ihr scheiden. Nach einer meist durchwachten und unruhig durchträumten Nacht war ich früh auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hörte, nein, und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen und eilte zu ihr hinaus. Als sie mir so schön und schöner als gestern entgegen kam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit; ich stürzte auf sie zu und faßte sie in meine Arme. Englisches, unwiderstehliches Wesen! rief ich aus! verzeih, aber es ist unmöglich! -- Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kuß auf die Wange drücken können. -- Halten Sie solche Ausbrüche einer plötzlichen leidenschaftlichen Neigung zurück, wenn Sie ein Glück nicht verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach einigen Prüfungen ergriffen werden kann. Fordere, was du willst, englischer Geist! rief ich aus, aber bringe mich nicht zur Verzweiflung. -- Sie Zeit an einem guten Essen und zugleich an einem so erwünschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit jeder Minute schöner würde. Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen, was sich auf Neigung und Liebe bezog. Es ward abgeräumt; ich zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu nähern, aber vergebens; sie hielt mich durch eine gewisse Würde zurück, der ich nicht widerstehen konnte, ja ich mußte wider meinen Willen zeitig genug von ihr scheiden. Nach einer meist durchwachten und unruhig durchträumten Nacht war ich früh auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hörte, nein, und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen und eilte zu ihr hinaus. Als sie mir so schön und schöner als gestern entgegen kam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit; ich stürzte auf sie zu und faßte sie in meine Arme. Englisches, unwiderstehliches Wesen! rief ich aus! verzeih, aber es ist unmöglich! — Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kuß auf die Wange drücken können. — Halten Sie solche Ausbrüche einer plötzlichen leidenschaftlichen Neigung zurück, wenn Sie ein Glück nicht verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach einigen Prüfungen ergriffen werden kann. Fordere, was du willst, englischer Geist! rief ich aus, aber bringe mich nicht zur Verzweiflung. — Sie <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0015"/> Zeit an einem guten Essen und zugleich an einem so erwünschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit jeder Minute schöner würde.</p><lb/> <p>Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen, was sich auf Neigung und Liebe bezog. Es ward abgeräumt; ich zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu nähern, aber vergebens; sie hielt mich durch eine gewisse Würde zurück, der ich nicht widerstehen konnte, ja ich mußte wider meinen Willen zeitig genug von ihr scheiden.</p><lb/> <p>Nach einer meist durchwachten und unruhig durchträumten Nacht war ich früh auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hörte, nein, und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen und eilte zu ihr hinaus. Als sie mir so schön und schöner als gestern entgegen kam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit; ich stürzte auf sie zu und faßte sie in meine Arme. Englisches, unwiderstehliches Wesen! rief ich aus! verzeih, aber es ist unmöglich! — Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kuß auf die Wange drücken können. — Halten Sie solche Ausbrüche einer plötzlichen leidenschaftlichen Neigung zurück, wenn Sie ein Glück nicht verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach einigen Prüfungen ergriffen werden kann.</p><lb/> <p>Fordere, was du willst, englischer Geist! rief ich aus, aber bringe mich nicht zur Verzweiflung. — Sie<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0015]
Zeit an einem guten Essen und zugleich an einem so erwünschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit jeder Minute schöner würde.
Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen, was sich auf Neigung und Liebe bezog. Es ward abgeräumt; ich zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu nähern, aber vergebens; sie hielt mich durch eine gewisse Würde zurück, der ich nicht widerstehen konnte, ja ich mußte wider meinen Willen zeitig genug von ihr scheiden.
Nach einer meist durchwachten und unruhig durchträumten Nacht war ich früh auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hörte, nein, und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen und eilte zu ihr hinaus. Als sie mir so schön und schöner als gestern entgegen kam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit; ich stürzte auf sie zu und faßte sie in meine Arme. Englisches, unwiderstehliches Wesen! rief ich aus! verzeih, aber es ist unmöglich! — Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kuß auf die Wange drücken können. — Halten Sie solche Ausbrüche einer plötzlichen leidenschaftlichen Neigung zurück, wenn Sie ein Glück nicht verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach einigen Prüfungen ergriffen werden kann.
Fordere, was du willst, englischer Geist! rief ich aus, aber bringe mich nicht zur Verzweiflung. — Sie
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/15>, abgerufen am 16.02.2025. |