Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

ist es! rief sie aus, seine eigne Überzeugung
aus einem fremden Munde zu hören! Wie
werden wir erst recht wir selbst, wenn uns
ein anderer vollkommen Recht giebt! Auch
ich denke über Lothario vollkommen wie Sie,
nicht jedermann läßt ihm Gerechtigkeit wie¬
derfahren, dafür schwärmen aber auch alle
die für ihn, die ihn näher kennen, und das
schmerzliche Gefühl, das sich in meinen Her¬
zen zu seinem Andenken mischt, kann mich
nicht abhalten täglich an ihn zu denken. Ein
Seufzer erweiterte ihre Brust, indem sie die¬
ses sagte, und in ihrem rechten Auge blinkte
eine schöne Thräne. Glauben Sie nicht,
fuhr sie fort, daß ich so weich, so leicht zu
rühren bin! Es ist nur das Auge, das weint.
Ich hatte eine kleine Warze am untern Au¬
genlied, man hat mir sie glücklich abgebun¬
den, aber das Auge ist seit der Zeit immer
schwach geblieben, der geringste Anlaß drängt

iſt es! rief ſie aus, ſeine eigne Überzeugung
aus einem fremden Munde zu hören! Wie
werden wir erſt recht wir ſelbſt, wenn uns
ein anderer vollkommen Recht giebt! Auch
ich denke über Lothario vollkommen wie Sie,
nicht jedermann läßt ihm Gerechtigkeit wie¬
derfahren, dafür ſchwärmen aber auch alle
die für ihn, die ihn näher kennen, und das
ſchmerzliche Gefühl, das ſich in meinen Her¬
zen zu ſeinem Andenken miſcht, kann mich
nicht abhalten täglich an ihn zu denken. Ein
Seufzer erweiterte ihre Bruſt, indem ſie die¬
ſes ſagte, und in ihrem rechten Auge blinkte
eine ſchöne Thräne. Glauben Sie nicht,
fuhr ſie fort, daß ich ſo weich, ſo leicht zu
rühren bin! Es iſt nur das Auge, das weint.
Ich hatte eine kleine Warze am untern Au¬
genlied, man hat mir ſie glücklich abgebun¬
den, aber das Auge iſt ſeit der Zeit immer
ſchwach geblieben, der geringſte Anlaß drängt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0070" n="66"/>
i&#x017F;t es! rief &#x017F;ie aus, &#x017F;eine eigne Überzeugung<lb/>
aus einem fremden Munde zu hören! Wie<lb/>
werden wir er&#x017F;t recht wir &#x017F;elb&#x017F;t, wenn uns<lb/>
ein anderer vollkommen Recht giebt! Auch<lb/><hi rendition="#g">ich</hi> denke über Lothario vollkommen wie Sie,<lb/>
nicht jedermann läßt ihm Gerechtigkeit wie¬<lb/>
derfahren, dafür &#x017F;chwärmen aber auch alle<lb/><hi rendition="#g">die</hi> für ihn, die ihn näher kennen, und das<lb/>
&#x017F;chmerzliche Gefühl, das &#x017F;ich in meinen Her¬<lb/>
zen zu &#x017F;einem Andenken mi&#x017F;cht, kann mich<lb/>
nicht abhalten täglich an ihn zu denken. Ein<lb/>
Seufzer erweiterte ihre Bru&#x017F;t, indem &#x017F;ie die¬<lb/>
&#x017F;es &#x017F;agte, und in ihrem rechten Auge blinkte<lb/>
eine &#x017F;chöne Thräne. Glauben Sie nicht,<lb/>
fuhr &#x017F;ie fort, daß ich &#x017F;o weich, &#x017F;o leicht zu<lb/>
rühren bin! Es i&#x017F;t nur das Auge, das weint.<lb/>
Ich hatte eine kleine Warze am untern Au¬<lb/>
genlied, man hat mir &#x017F;ie glücklich abgebun¬<lb/>
den, aber das Auge i&#x017F;t &#x017F;eit der Zeit immer<lb/>
&#x017F;chwach geblieben, der gering&#x017F;te Anlaß drängt<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0070] iſt es! rief ſie aus, ſeine eigne Überzeugung aus einem fremden Munde zu hören! Wie werden wir erſt recht wir ſelbſt, wenn uns ein anderer vollkommen Recht giebt! Auch ich denke über Lothario vollkommen wie Sie, nicht jedermann läßt ihm Gerechtigkeit wie¬ derfahren, dafür ſchwärmen aber auch alle die für ihn, die ihn näher kennen, und das ſchmerzliche Gefühl, das ſich in meinen Her¬ zen zu ſeinem Andenken miſcht, kann mich nicht abhalten täglich an ihn zu denken. Ein Seufzer erweiterte ihre Bruſt, indem ſie die¬ ſes ſagte, und in ihrem rechten Auge blinkte eine ſchöne Thräne. Glauben Sie nicht, fuhr ſie fort, daß ich ſo weich, ſo leicht zu rühren bin! Es iſt nur das Auge, das weint. Ich hatte eine kleine Warze am untern Au¬ genlied, man hat mir ſie glücklich abgebun¬ den, aber das Auge iſt ſeit der Zeit immer ſchwach geblieben, der geringſte Anlaß drängt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/70
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/70>, abgerufen am 17.05.2024.