Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth
mit den heitersten Aussichten beschäftigt, auf
keinen irrdischen Gegenstand richtete sie ihre
Aufmerksamkeit mehr, sie genoß nur wenige
Speisen, und ihr Geist machte sich nach und
nach von den Banden des Körpers los. Auch
fand man sie zuletzt unvermuthet erblaßt
und ohne Empfindung, sie öfnete die Augen
nicht wieder, sie war, was wir todt nennen.

Der Ruf ihrer Vision hatte sich bald un¬
ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige
Ansehn, das sie in ihrem Leben genoß, ver¬
wandelte sich nach ihrem Tode schnell in den
Gedanken, daß man sie sogleich für seelig,
ja für heilig halten müsse.

Als man sie zu Grabe bestatten wollte,
drängten sich viele Menschen mit unglaub¬
licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand,
man wollte wenigstens ihr Kleid berühren.
In dieser leidenschaftlichen Erhöhung fühlten

Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth
mit den heiterſten Ausſichten beſchäftigt, auf
keinen irrdiſchen Gegenſtand richtete ſie ihre
Aufmerkſamkeit mehr, ſie genoß nur wenige
Speiſen, und ihr Geiſt machte ſich nach und
nach von den Banden des Körpers los. Auch
fand man ſie zuletzt unvermuthet erblaßt
und ohne Empfindung, ſie öfnete die Augen
nicht wieder, ſie war, was wir todt nennen.

Der Ruf ihrer Viſion hatte ſich bald un¬
ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige
Anſehn, das ſie in ihrem Leben genoß, ver¬
wandelte ſich nach ihrem Tode ſchnell in den
Gedanken, daß man ſie ſogleich für ſeelig,
ja für heilig halten müſſe.

Als man ſie zu Grabe beſtatten wollte,
drängten ſich viele Menſchen mit unglaub¬
licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand,
man wollte wenigſtens ihr Kleid berühren.
In dieſer leidenſchaftlichen Erhöhung fühlten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0462" n="458"/>
            <p>Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth<lb/>
mit den heiter&#x017F;ten Aus&#x017F;ichten be&#x017F;chäftigt, auf<lb/>
keinen irrdi&#x017F;chen Gegen&#x017F;tand richtete &#x017F;ie ihre<lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit mehr, &#x017F;ie genoß nur wenige<lb/>
Spei&#x017F;en, und ihr Gei&#x017F;t machte &#x017F;ich nach und<lb/>
nach von den Banden des Körpers los. Auch<lb/>
fand man &#x017F;ie zuletzt unvermuthet erblaßt<lb/>
und ohne Empfindung, &#x017F;ie öfnete die Augen<lb/>
nicht wieder, &#x017F;ie war, was wir todt nennen.</p><lb/>
            <p>Der Ruf ihrer Vi&#x017F;ion hatte &#x017F;ich bald un¬<lb/>
ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige<lb/>
An&#x017F;ehn, das &#x017F;ie in ihrem Leben genoß, ver¬<lb/>
wandelte &#x017F;ich nach ihrem Tode &#x017F;chnell in den<lb/>
Gedanken, daß man &#x017F;ie &#x017F;ogleich für &#x017F;eelig,<lb/>
ja für heilig halten mü&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
            <p>Als man &#x017F;ie zu Grabe be&#x017F;tatten wollte,<lb/>
drängten &#x017F;ich viele Men&#x017F;chen mit unglaub¬<lb/>
licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand,<lb/>
man wollte wenig&#x017F;tens ihr Kleid berühren.<lb/>
In die&#x017F;er leiden&#x017F;chaftlichen Erhöhung fühlten<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[458/0462] Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth mit den heiterſten Ausſichten beſchäftigt, auf keinen irrdiſchen Gegenſtand richtete ſie ihre Aufmerkſamkeit mehr, ſie genoß nur wenige Speiſen, und ihr Geiſt machte ſich nach und nach von den Banden des Körpers los. Auch fand man ſie zuletzt unvermuthet erblaßt und ohne Empfindung, ſie öfnete die Augen nicht wieder, ſie war, was wir todt nennen. Der Ruf ihrer Viſion hatte ſich bald un¬ ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige Anſehn, das ſie in ihrem Leben genoß, ver¬ wandelte ſich nach ihrem Tode ſchnell in den Gedanken, daß man ſie ſogleich für ſeelig, ja für heilig halten müſſe. Als man ſie zu Grabe beſtatten wollte, drängten ſich viele Menſchen mit unglaub¬ licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenigſtens ihr Kleid berühren. In dieſer leidenſchaftlichen Erhöhung fühlten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/462
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/462>, abgerufen am 22.11.2024.