Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth mit den heitersten Aussichten beschäftigt, auf keinen irrdischen Gegenstand richtete sie ihre Aufmerksamkeit mehr, sie genoß nur wenige Speisen, und ihr Geist machte sich nach und nach von den Banden des Körpers los. Auch fand man sie zuletzt unvermuthet erblaßt und ohne Empfindung, sie öfnete die Augen nicht wieder, sie war, was wir todt nennen.
Der Ruf ihrer Vision hatte sich bald un¬ ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige Ansehn, das sie in ihrem Leben genoß, ver¬ wandelte sich nach ihrem Tode schnell in den Gedanken, daß man sie sogleich für seelig, ja für heilig halten müsse.
Als man sie zu Grabe bestatten wollte, drängten sich viele Menschen mit unglaub¬ licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenigstens ihr Kleid berühren. In dieser leidenschaftlichen Erhöhung fühlten
Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth mit den heiterſten Ausſichten beſchäftigt, auf keinen irrdiſchen Gegenſtand richtete ſie ihre Aufmerkſamkeit mehr, ſie genoß nur wenige Speiſen, und ihr Geiſt machte ſich nach und nach von den Banden des Körpers los. Auch fand man ſie zuletzt unvermuthet erblaßt und ohne Empfindung, ſie öfnete die Augen nicht wieder, ſie war, was wir todt nennen.
Der Ruf ihrer Viſion hatte ſich bald un¬ ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige Anſehn, das ſie in ihrem Leben genoß, ver¬ wandelte ſich nach ihrem Tode ſchnell in den Gedanken, daß man ſie ſogleich für ſeelig, ja für heilig halten müſſe.
Als man ſie zu Grabe beſtatten wollte, drängten ſich viele Menſchen mit unglaub¬ licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenigſtens ihr Kleid berühren. In dieſer leidenſchaftlichen Erhöhung fühlten
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Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth
mit den heiterſten Ausſichten beſchäftigt, auf
keinen irrdiſchen Gegenſtand richtete ſie ihre
Aufmerkſamkeit mehr, ſie genoß nur wenige
Speiſen, und ihr Geiſt machte ſich nach und
nach von den Banden des Körpers los. Auch
fand man ſie zuletzt unvermuthet erblaßt
und ohne Empfindung, ſie öfnete die Augen
nicht wieder, ſie war, was wir todt nennen.
Der Ruf ihrer Viſion hatte ſich bald un¬
ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige
Anſehn, das ſie in ihrem Leben genoß, ver¬
wandelte ſich nach ihrem Tode ſchnell in den
Gedanken, daß man ſie ſogleich für ſeelig,
ja für heilig halten müſſe.
Als man ſie zu Grabe beſtatten wollte,
drängten ſich viele Menſchen mit unglaub¬
licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand,
man wollte wenigſtens ihr Kleid berühren.
In dieſer leidenſchaftlichen Erhöhung fühlten
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/462>, abgerufen am 22.11.2024.
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