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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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in die See ging, sie sammelte in ein Körb¬
chen alle Knochen, die sie fand. Niemand
durfte ihr sagen, daß es Thierknochen seyen;
die großen begrub sie, die kleinen hub sie
auf. In dieser Beschäftigung lebte sie un¬
ablässig fort. Der Geistliche, der durch die
unerläßliche Ausübung seiner Pflicht ihren
Zustand verursacht hatte, nahm sich auch ih¬
rer nun aus allen Kräften an. Durch sei¬
nen Einfluß ward sie in der Gegend für
eine Entzückte, nicht für eine Verrückte, ge¬
halten, man stand mit gefalteten Händen,
wenn sie vorbeyging, und die Kinder küßten
ihr die Hand.

Ihrer alten Freundin und Begleiterin
war von dem Beichtvater die Schuld, die
sie bey der unglücklichen Verbindung beyder
Personen gehabt haben mochte, nur unter
der Bedingung erlassen, daß sie, unablässig
treu, ihr ganzes künftiges Leben die Un¬

in die See ging, ſie ſammelte in ein Körb¬
chen alle Knochen, die ſie fand. Niemand
durfte ihr ſagen, daß es Thierknochen ſeyen;
die großen begrub ſie, die kleinen hub ſie
auf. In dieſer Beſchäftigung lebte ſie un¬
abläſſig fort. Der Geiſtliche, der durch die
unerläßliche Ausübung ſeiner Pflicht ihren
Zuſtand verurſacht hatte, nahm ſich auch ih¬
rer nun aus allen Kräften an. Durch ſei¬
nen Einfluß ward ſie in der Gegend für
eine Entzückte, nicht für eine Verrückte, ge¬
halten, man ſtand mit gefalteten Händen,
wenn ſie vorbeyging, und die Kinder küßten
ihr die Hand.

Ihrer alten Freundin und Begleiterin
war von dem Beichtvater die Schuld, die
ſie bey der unglücklichen Verbindung beyder
Perſonen gehabt haben mochte, nur unter
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treu, ihr ganzes künftiges Leben die Un¬

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[452/0456] in die See ging, ſie ſammelte in ein Körb¬ chen alle Knochen, die ſie fand. Niemand durfte ihr ſagen, daß es Thierknochen ſeyen; die großen begrub ſie, die kleinen hub ſie auf. In dieſer Beſchäftigung lebte ſie un¬ abläſſig fort. Der Geiſtliche, der durch die unerläßliche Ausübung ſeiner Pflicht ihren Zuſtand verurſacht hatte, nahm ſich auch ih¬ rer nun aus allen Kräften an. Durch ſei¬ nen Einfluß ward ſie in der Gegend für eine Entzückte, nicht für eine Verrückte, ge¬ halten, man ſtand mit gefalteten Händen, wenn ſie vorbeyging, und die Kinder küßten ihr die Hand. Ihrer alten Freundin und Begleiterin war von dem Beichtvater die Schuld, die ſie bey der unglücklichen Verbindung beyder Perſonen gehabt haben mochte, nur unter der Bedingung erlaſſen, daß ſie, unabläſſig treu, ihr ganzes künftiges Leben die Un¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/456>, abgerufen am 22.11.2024.