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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Dank sey meinem Genius, der mich da¬
mals in meiner häuslichen Verfassung so ein¬
geschränkt hielt! Es war schon eine große
Reise, wenn ich nur in den Hausgarten ge¬
hen konnte. Die Pflege meines alten und
schwächlichen Vaters machte mir Arbeit ge¬
nug, und in den Ergötzungsstunden war die
edle Phantasie mein Zeitvertreib. Der ein¬
zige Mensch, den ich sah, war Philo, den
mein Vater sehr liebte, dessen offnes Verhält¬
niß zu mir aber durch die letzte Erklärung
einigermaßen gelitten hatte. Bey ihm war
die Rührung nicht tief gedrungen, und da
ihm einige Versuche, in meiner Sprache zu
reden, nicht gelungen waren, so vermied er
diese Materie um so leichter, als er durch
seine ausgebreiteten Kenntnisse immer neue
Gegenstände des Gesprächs herbey zu führen
wußte.

Ich war also eine herrnhuthische Schwe¬

Dank ſey meinem Genius, der mich da¬
mals in meiner häuslichen Verfaſſung ſo ein¬
geſchränkt hielt! Es war ſchon eine große
Reiſe, wenn ich nur in den Hausgarten ge¬
hen konnte. Die Pflege meines alten und
ſchwächlichen Vaters machte mir Arbeit ge¬
nug, und in den Ergötzungsſtunden war die
edle Phantaſie mein Zeitvertreib. Der ein¬
zige Menſch, den ich ſah, war Philo, den
mein Vater ſehr liebte, deſſen offnes Verhält¬
niß zu mir aber durch die letzte Erklärung
einigermaßen gelitten hatte. Bey ihm war
die Rührung nicht tief gedrungen, und da
ihm einige Verſuche, in meiner Sprache zu
reden, nicht gelungen waren, ſo vermied er
dieſe Materie um ſo leichter, als er durch
ſeine ausgebreiteten Kenntniſſe immer neue
Gegenſtände des Geſprächs herbey zu führen
wußte.

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[312/0318] Dank ſey meinem Genius, der mich da¬ mals in meiner häuslichen Verfaſſung ſo ein¬ geſchränkt hielt! Es war ſchon eine große Reiſe, wenn ich nur in den Hausgarten ge¬ hen konnte. Die Pflege meines alten und ſchwächlichen Vaters machte mir Arbeit ge¬ nug, und in den Ergötzungsſtunden war die edle Phantaſie mein Zeitvertreib. Der ein¬ zige Menſch, den ich ſah, war Philo, den mein Vater ſehr liebte, deſſen offnes Verhält¬ niß zu mir aber durch die letzte Erklärung einigermaßen gelitten hatte. Bey ihm war die Rührung nicht tief gedrungen, und da ihm einige Verſuche, in meiner Sprache zu reden, nicht gelungen waren, ſo vermied er dieſe Materie um ſo leichter, als er durch ſeine ausgebreiteten Kenntniſſe immer neue Gegenſtände des Geſprächs herbey zu führen wußte. Ich war alſo eine herrnhuthiſche Schwe¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/318>, abgerufen am 26.05.2024.